Metzler Philosophen-Lexikon: Rickert, Heinrich
Geb. 25. 5. 1863 in Danzig;
gest. 30. 7. 1936 in Heidelberg
R. zählt zu den letzten bedeutenden Repräsentanten einer Richtung des »Neukantianismus«, die sich vor dem Ersten Weltkrieg als »südwestdeutsche Schule« an den Universitäten Freiburg und Heidelberg etablieren konnte. Die seinerzeit institutionell dominierende Bewegung des Neukantianismus gründet sich auf eine Art Reformprogramm, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter der Devise einer Rückkehr zu Kant den Totalitätsansprüchen des Hegelschen Systems die besonnene Haltung kritischer Selbstbeschränkung entgegensetzte. Nunmehr sollte sich die Philosophie der begrenzten Aufgabe widmen, die formalen Bedingungen der Gültigkeit von Erfahrungsurteilen und, damit verbunden, die logischen Grundlagen der Wissenschaften aufzuklären; dabei hatte sich solche Erkenntniskritik vor metaphysischen Spekulationen wie vor vulgärmaterialistischen Anwandlungen gleichermaßen zu hüten. Im Bannkreis der erkenntniskritischen Geltungsreflexion, die übrigens die akademische Philosophie für lange Zeit wesentlicher Erfahrungsdimensionen beraubte, stehen denn auch die theoretischen Bemühungen der »südwestdeutschen« Neukantianer. Von deren Schulhaupt Wilhelm Windelband hat R. sich, nach einer kurzen Episode des Nietzsche-Enthusiasmus, in seiner Straßburger Studienzeit philosophisch inspirieren lassen. So ist nicht verwunderlich, daß er in seiner Habilitationsschrift über den Gegenstand der Erkenntnis (1894) jenem geltungstheoretischen Prinzip schulmäßig Rechnung trägt. Dabei legt seine Erkenntnistheorie den Akzent nicht auf eine »transzendentalphilosophische« Lehre vom Subjekt, sondern auf den Grundgedanken einer »Logik« des Sinns eines jeden gültigen Urteils, das nach R. durch eine normgerechte Zuordnung von begrifflicher, kategorialer Form und Empfindungsinhalt zustandekommt. Das »transzendente Sollen«, das jene Zuordnung festsetzt, tritt dem urteilenden Subjekt als Imperativ entgegen. R. begreift gerade in der Sphäre des Theoretischen die praktische Vernunft als leitende Instanz. Diese praktische Orientierung des urteilenden Bewußtseins, das auch in anderen Bereichen als dem theoretisch-wissenschaftlichen sich zu Geltendem »verhält«, verankert R. in einem System der »Werte« (gemeint sind Wahrheit, Sittlichkeit, Schönheit, Heiligkeit etc.). Dessen Ausarbeitung läßt er sich, ganz im Sinne der besonders von Windelband vorgezeichneten kulturphilosophischen Perspektive, in späteren Jahren besonders angelegen sein. Anerkennung über den engeren akademischen Bezirk hinaus verschafft ihm die groß dimensionierte Studie über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (1896/1902). Wiederum in der Nachfolge Windelbands, der 1894 den wesentlichen Unterschied zwischen Natur- und Geschichtswissenschaft auf die Differenz der dort »nomothetischen« (an Gesetzesaussagen orientierten), hier »idiographischen« (individualisierenden) Begriffsbildung zurückführte, behauptet der Wertphilosoph die prinzipielle Unabhängigkeit der Methoden von den betreffenden Gegenstandsgebieten. Am Kriterium der bedeutsamen Einzigartigkeit ausgerichtet, »erzeugt« etwa die historische Begriffsbildung allererst ihren Gegenstand durch die methodisch kontrollierte Beziehung des Forschers auf Kulturwerte, die das historisch »Bedeutsame« inmitten der Mannigfaltigkeit der Phänomene konturiert hervortreten lassen. Diese These hat die von Max Weber entwickelte Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Methodenlehre maßgeblich bestimmt. Die Neigung aber, der begrifflichen Form im Zusammenhang mit erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Fragestellungen den Vorrang zu erteilen, wird bei R. zunehmend von der Einsicht in die tatsächliche Bedeutsamkeit material, gegenständlich orientierter Gesichtspunkte verdrängt, haben sich doch die »transzendenten« Werte in der Erfahrungswelt selbst in Gestalt sog. »Kulturgüter« manifestiert. Dieser Einsicht sucht R., der Anfang der 20er Jahre, programmatisch in seiner Allgemeinen Grundlegung der Philosophie (1921), den Universalitätsgedanken der Metaphysik wieder aufgreift, in größerem Rahmen durch den Entwurf eines ontologischen Systems des »Weltganzen« zu entsprechen, das er in unterschiedlich strukturierte Sphären (die des Sinnlichen, des Geltenden, des Übersinnlichen, des ideal Existierenden) einteilt. Hier soll die begriffliche Erkenntnisform sich nach der je eigentümlichen Materialität jener Welten richten. R. verläßt mit dieser Konzeption, die sein Spätwerk bestimmt, den neukantianischen Grundkonsens. Emil Lask hat diese Konsequenz, schon vor der ontologischen Wendung seines Lehrers, auf eigenwillige Weise gezogen. Trotz aller Polemik gegen die geistigen »Modeströmungen« nähert sich R. nach dem Ersten Weltkrieg, indem er die Unmittelbarkeit des material Gegebenen mehr und mehr zum Fetisch macht, lebensphilosophischen und phänomenologischen Tendenzen. Sein Bemühen, dem in der Neuzeit einsetzenden Prozeß der Differenzierung der Kultur in autonome Regionen philosophisch gerecht zu werden, gipfelt in der Überzeugung, Kulturwerte seien als letzte Instanzen rationaler Begründung entzogen. Damit liefert R. sein Denken an die herrschenden politischen Mächte aus. So konnte der Philosoph, der immerhin seine Jugend im Milieu des liberalen »Freisinns« verbracht hatte, 1934 die Empfehlung geben, es »sollte kein Deutscher, der in unseren Tagen innerhalb Deutschlands Kultur wirken will, sich gegen das Vorwiegen der national-politischen Kulturziele auflehnen.«
Merz, Peter-Ulrich: Max Weber und Heinrich Rickert. Die erkenntniskritischen Grundlagen der verstehenden Soziologie. Würzburg 1990. – Oakes, Guy: Weber and Rickert. Concept Formations in the Cultural Sciences. Cambridge, Mass./London 1988. – Kuttig, Lothar: Konstitution und Gegebenheit bei H. Rickert. Essen 1987. – Seidel, Hermann: Wert und Wirklichkeit in der Philosophie Heinrich Rickerts. Bonn 1968.
Thomas Horst
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