Metzler Philosophen-Lexikon: Ruge, Arnold
Geb. 13. 9. 1802 in Bergen (auf Rügen);
gest. 31. 12. 1880 in Brighton
Über sein Verhältnis zur Hegelschen Philosophie äußert sich R. an einer Stelle seiner autobiographischen Aufzeichnungen Aus früherer Zeit: »Wir hatten ihn nie so verstanden, wie die Anwälte der religiösen und staatlichen Knechtschaft, die genug in ihm fanden, was für sie, aber auch gegen sein eigenes Prinzip spricht. Wir haben ihm gewiß nicht Unrecht gethan, als wir ihn gegen sich selbst in Schutz nahmen, obgleich wir sehr gut wissen, daß er sich gegen uns erklärt haben würde, wenn er unsre Auffassung seiner Philosophie erlebt hätte.« Darin spricht R. stellvertretend für die junghegelianische Bewegung, die sich daran abgearbeitet hat, die Hegelsche Philosophie in politische Praxis umzusetzen und damit – mit einem Wort des jungen Marx – zu verwirklichen. R. ist innerhalb des Junghegelianismus sicher kein bedeutender selbständiger Kopf; allerdings spielt er als glänzender Publizist und Kritiker, zugleich als hervorragendes Organisationstalent eine um so erheblichere Rolle in den philosophischen und politischen Auseinandersetzungen des Vormärz. – Von 1832 bis 1836 arbeitet der Altphilologe und Philosoph R. recht glücklos als Privatdozent in Halle. Insgesamt nur wenig beachtet, haben seine beiden großen systematischen Arbeiten aus den 30er Jahren, Die Platonische Ästhetik (1832) und die Neue Vorschule der Ästhetik (1837), kaum nennenswerten Einfluß auf die ästhetische Theoriebildung bei den Zeitgenossen gehabt. Obwohl sich vor allem in der Neuen Vorschule bemerkenswerte Überlegungen zu den – in der Tradition übergangenen – Begriffen des Häßlichen und Komischen finden, ist R. von den Philosophiehistorikern des 19. Jahrhunderts schnell abgefertigt worden, weil er »eben kein Ästhetiker vom Fach« (Max Schasler) war. 1838 gründet er mit dem Freund Theodor Echtermeyer die Hallischen Jahrbücher, die – seit 1841 unter dem Titel Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst bis zu deren Verbot 1843 fortgeführt – sicherlich das bedeutendste Publikationsorgan der Vormärz-Demokraten gewesen sind. Zu den Mitarbeitern und Beiträgern zählen u. a. David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer, Friedrich Theodor Vischer und Karl Rosenkranz. Im Zentrum der Kritik steht die romantische Bewegung, der Echtermeyer und R. in einem vielbeachteten Manifest, Der Protestantismus und die Romantik (1839/40), den Kampf angesagt haben. Unter Berufung auf die Hegelsche Philosophie, das »Princip der Reformation« und der Befreiung, attackieren Echtermeyer und R. die »Geniesucht«, »Willkür« und »leere Negativität« der Romantiker, die – politisch – am Ende beim Katholizismus und bei der Apologie der Reaktion landen. Nach dem Verbot der Jahrbücher plant R., gemeinsam mit Karl Marx die Deutsch-Französischen Jahrbücher herauszugeben. Obwohl nur ein Doppelheft erschienen ist, vereinigen doch die Jahrbücher die seinerzeit fortschrittlichsten Positionen. Neben Marx und Engels sind Heine, Moses Heß und Georg Herwegh unter den Beiträgern zu finden. Doch werden im Zusammenhang mit der Planung der Jahrbücher bereits R.s Grenzen deutlich. Er bleibt der liberalen Aufklärungsideologie verhaftet und schreckt davor zurück, die demokratische Bewegung mit dem proletarischen Kampf, wie es Marx und Engels vorschwebt, zu verbinden. So ist denn schließlich seine weitere Entwicklung nur folgerichtig. Nach 1848 ins Exil nach England vertrieben, macht R. 1866 seinen Frieden mit dem preußischen Weg der Reichseinigung von oben und schließt sich den Nationalliberalen an.
R.s bemerkenswerteste Arbeiten liegen weniger im Philosophisch-Systematischen denn im Publizistischen. Mit seinen Rezensionen und Essays in den Hallischen Jahrbüchern hat er die Wendung der Hegelschen Philosophie ins Politisch-Praktische nachvollzogen und damit entscheidende Einsichten der junghegelianischen Bewegung, wie sie philosophisch strenger von Feuerbach, Bauer oder Strauß entwickelt worden sind, popularisiert. Bedeutend sind vor allem R.s Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, worin er dessen Staatsphilosophie dahin umdeutet, daß die Bestimmung des allgemeinen Willens weniger eine Angelegenheit des Monarchen und der Regierung als der Volksvertretung ist, und seine Auseinandersetzung mit dem Liberalismus (Eine Selbstkritik des Liberalismus, 1843), dem er – wieder via Hegel – vorwirft, daß allein die theoretisch-philosophische Befreiung des Geistes nichts nützt, solange keine wahre, politisch-praktische Freiheit im Staat herrscht. R. schlägt Hegel mit dessen eigenen Waffen, wenn er konstatiert, daß sich die Substanz in der progredierenden Geschichte, im geschichtlichen Subjekt, realisiert und demgemäß auch nicht bei Hegel stehengeblieben werden kann. In einer berühmt gewordenen Rezension der Hegelschen Rechtsphilosophie, Zur Kritik des gegenwärtigen Staats- und Völkerrechts (1840), skizziert er das Programm einer Philosophie nach Hegel – eine Problemstellung, die nicht nur die Junghegelianer, sondern auch noch Marx und Engels zum Einsatzpunkt ihrer frühen Philosophie der Praxis gemacht haben: Hegel »war wirklich der philosophische Abschluß seiner Zeit, und nun ignorierte er auch die Schranke oder die Negation der Zukunft, weil diese dem absoluten Wissen widerspricht; diese Schranke offenbart sich nun unmittelbar an ihm selber, und diese Negation ist bereits eingetreten: wir können weder seine Zurechtmacherei der christlichen Dogmatik noch die Konstruktion der bereits historisch überwundenen Zustände, weder die absolute Religion noch die absolute Kunst und noch weniger das absolute Wissen anerkennen und werden ihm überall beweisen, daß solche Unfreiheit seinem eigenen, dem ewigen Prinzip der Freiheit und der Offenbarung des Absoluten in der Geschichte, d.h. der Entwicklung, zuwider ist.«
Löwith, Karl: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Sämtliche Schriften, Bd. 4. Stuttgart 1988. – Pepperle, Heinz/Pepperle, Ingrid (Hg.): Die Hegelsche Linke. Dokumente zu Philosophie und Politik im deutschen Vormärz. Leipzig 1985.
Werner Jung
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