Metzler Philosophen-Lexikon: Ryle, Gilbert
Geb. 19. 8. 1900 in Brighton;
gest. 6. 10. 1976 in Whitby
R. s. Hauptanliegen war die Erkundung der »logischen Geographie« unseres Begriffssystems. Die Aufgabe der Philosophie definierte er als die Beseitigung von Begriffsverwirrungen. Anders als Rudolf Carnap und ähnlich wie Ludwig Wittgenstein und John L. Austin war R. der Auffassung, daß nicht erst eine ideale Sprache konstruiert werden muß, die dem Ausräumen von Begriffsverwirrungen dient, sondern daß der Rekurs auf die normale Sprache dem Philosophen ausreichende Mittel zur Verfügung stellt, seine Aufgabe zu bewältigen.
R. wurde als Sohn eines philosophisch interessierten Arztes geboren; 1919 begann er das Studium der Altphilologie, Philosophie, Geschichte, Staatswissenschaft und Nationalökonomie am Queens College in Oxford. Nach Abschluß des Studiums erhielt R. 1924 eine Dozentur am Christ Church College. In einer autobiographischen Schrift charakterisiert er die provinzielle Atmosphäre der Oxforder Philosophie während der 20er Jahre, die dazu führte, daß man kontinentale Autoren überhaupt nicht wahrnahm. R. selbst aber verfaßte Rezensionen zu Heideggers Sein und Zeit und einer Schrift des polnischen Phänomenologen Roman Ingarden. Eine Veranstaltung R. s. über Bernard Bolzano, Franz Brentano, Edmund Husserl und Alexius Meinong führte in Oxford zu dem Scherz, R. halte eine Vorlesung über drei österreichische Bahnstationen und ein chinesisches Brettspiel. R. s. frühe Nähe zur Phänomenologie zeigt sich in seinen späteren Werken vor allem in seiner Vorliebe für detaillierte Einzelanalysen; seine anticartesianisch motivierte Destruktion des Dualismus von Geist und Körper auf der Grundlage einer Analyse der menschlichen Praxis steht in unmittelbarer Nähe zu zentralen Anliegen von Heideggers Sein und Zeit. Nach dem Krieg wurde R. Fellow am Magdalen College und Waynflete Professor für Metaphysik in Oxford. Von 1948 bis 1971 gab er als Nachfolger von George E. Moore die philosophische Zeitschrift Mind heraus. 1953 hielt er die Tarner Lectures in Cambridge, die unter dem Titel Dilemmas (1970; Begriffskonflikte) als Buchveröffentlichung erschienen. Sein Hauptwerk The Concept of Mind (Der Begriff des Geistes) publizierte R. 1949. Seine weitreichenden philosophiehistorischen Kenntnisse stellte er mit seinen Arbeiten zu Platon (u.a. Platos Progress, 1966) unter Beweis.
In seiner Schrift The Concept of Mind destruiert R. eine der wohl einflußreichsten Theorien über den menschlichen Geist, die davon ausgeht, daß der Mensch einen Körper und einen Geist in der gleichen Weise hat, wobei der Körper von allen wahrgenommen werden kann und den Gesetzen der Physik unterliegt, während der Geist privat ist und nur von sich selbst beobachtet werden kann. Das Verfahren der Introspektion sichert den privilegierten Zugang zu ihm. Die Vorgänge im Geist gelten als die verborgenen Ursachen des beobachtbaren körperlichen Verhaltens der Menschen. R. nennt diese Theorie »Dogma vom Gespenst in der Maschine«, »paramechanische Hypothese« oder auch »cartesianischen Mythos«. Mit einer Fülle von Einzelanalysen weist er auf die Inkonsistenz dieses Mythos hin, verdinglichungskritisch richtet er sich gegen eine durch verhaltensbeschreibende Redeweisen nahegelegte Hypostasierung mentaler Entitäten, die als im Kopf des Menschen anzusiedelnde Ursachen seines Verhaltens gelten. Unter dem Vorzeichen eines »methodischen Behaviorismus« rekonstruiert R. diese Redeweisen als »dispositionelle Prädikate«. Was beispielsweise heißt es, von einer menschlichen Handlung zu sagen, sie sei intelligent? Ein Vertreter der »intellektualistischen Legende«, die auf dem »Dogma vom Gespenst in der Maschine« basiert, würde sagen, eine intelligente Handlung zeichne sich dadurch aus, daß der Mensch, der sie durchführe, vorher denke und plane, daß er um die Regeln wisse, nach denen die Handlung auszuführen sei. Eine Definition intelligenten Verhaltens durch Wissen stellt aber keine Kriterien zur Verfügung, die es erlauben, eine intelligente Handlung von einer weniger intelligenten Handlung zu unterscheiden. Statt dessen nimmt eine derartige Definition Zuflucht zu nichtbeobachtbaren Vorgängen im Geist des Menschen. Jemand kann eine Rechenaufgabe lösen, ohne sich einer besonderen Denkanstrengung zu unterziehen; er kann z.B. die Lösung und die zu ihr führenden Schritte auswendig gelernt haben; ein anderer löst die gleiche Aufgabe, indem er seine intellektuellen Fähigkeiten ins Spiel bringt. Beobachten wir den eher schlichten und den meisterhaften Rechner bei ihrer in beiden Fällen bemerkenswert eleganten Vorführung der Lösung, so erlaubt uns die Beobachtung nicht, nur eine der beiden Rechnungen als intelligent zu bezeichnen. R. wendet sich gegen die »intellektualistische Legende« und formuliert folgende Gegenargumente: auch dann, wenn wir intelligent handeln, müssen wir oftmals viel zu schnell handeln, als daß wir vorher einen Plan fassen könnten; an einen vor dem Handeln gefaßten Plan können wir uns bei vielen Handlungen nicht erinnern; so kann man kochen oder sprechen, auch ohne alle Regeln dieses Handelns genau explizieren zu können; der schwerwiegendste Fehler des Intellektualisten liegt in der Rückführung der Intelligenz auf das Wissen; jemand kann alle Regeln und Kunstregeln des Fußballs kennen, ohne jemals von der Ersatzbank eines Kreisligavereins herunterzukommen. R. fragt nach den Kriterien für die Anwendung des Wortes »intelligent«. Ein Kriterium für intelligentes Verhalten ist das Können (R. unterscheidet in seinem Hauptwerk »knowing how« (können) und »knowing that« (wissen)). Die Regeln einer Handlung kennen, heißt zumeist, diese Handlung ausführen können, wobei hier die Praxis des Handelns der Theorie des Regelexplizierens vorausgeht und zugrunde liegt.
Der Intellektualist verwechselt Wörter, die Dispositionen bezeichnen, mit Wörtern, die Vorgänge bezeichnen. Dispositionsaussagen erlauben zwar auf eine ähnliche Weise Prognosen wie naturwissenschaftliche Sätze über Kausalitätsverhältnisse, eine Verwechslung dieser aber mit jenen führt zu einer Verdinglichung des Geistes. Die Dominanz des »cartesianischen Mythos«, die Genese von Begriffsverwirrungen (z.B. die Verwechslung eines Dispositionswortes mit einem Vorgangswort) erklärt sich R. durch das Vorliegen von Kategorienfehlern. Wenn ich etwa jemandem Frankfurt zeige, die Gebäude der Banken, die Karl-Marx-Buchhandlung, das philosophische Institut der Universität, die Corneliusstraße, den Hauptbahnhof und die vielen Vergnügungsstätten und Bordelle im Bahnhofsviertel und er mich anschließend fragt, wo denn aber nun Frankfurt sei, so werde ich ihm erklären müssen, daß es außer den Gebäuden, Straßen und Plätzen, die ich ihm gezeigt habe, kein Frankfurt gibt. Er hat mit seiner Frage einen Kategorienfehler begangen. Einen ähnlichen Fehler begeht auch der Dualist, der die Handlungen und Aktivitäten der Menschen erklären will und dabei nach den Vorgängen im Geiste fragt. In einer Rezension zu Carnaps Bedeutungstheorie verwirft R. dessen Semantik als eine »Fido«-Fido-Theorie der Bedeutung. Die Bedeutung eines Wortes werde hier aufgefaßt als dasjenige, wofür das Wort stehe, ähnlich wie der Name »Fido« für den Hund Fido stehe. Eine derartige Konzeption ist der Auffassung R.s zufolge viel zu eng und der Vielfalt der möglichen Wortgebräuche und Verwendungsweisen unangemessen. In allen seinen Analysen rekurriert R. immer wieder auf die vortheoretische Praxis der Menschen; Alltagswelt und gesunder Menschenverstand sind ihm verläßliche Richter bei dem Urteil über die Lösung eines philosophischen Problems. Seine Schriften weisen auf eine mögliche Synthese von phänomenologischer Lebensweltphilosophie und der »Philosophie der normalen Sprache« als einem dominierenden Zweig der analytischen Philosophie.
Rao, Bairady N.: A Semiotic Reconstruction of Ryle’s Critique of Cartesianism. Berlin/New York 1994. – Rentsch, Thomas: Sprachanalytische Verdinglichungskritik. Gilbert Ryles Phänomenologie des Geistes. In: Ders.: Heidegger und Wittgenstein. Existenzial- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie. Stuttgart 1985. – Kemmerling, Andreas: Gilbert Ryle: Können und Wissen. In: Grundprobleme der großen Philosophen. Hg. von Josef Speck. Göttingen 1975. – Savigny, Eike von: Die Philosophie der normalen Sprache. Eine kritische Einführung in die »ordinary language philosophy«. Frankfurt am Main 1969.
Christoph Demmerling
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