Metzler Philosophen-Lexikon: Sade, Donatien Alphonse François, Marquis de
Geb. 2. 6. 1740 in Paris;
gest. 2. 12. 1814 in Charenton
»Nicht nur werde ich den ganzen Winter kein Feuer machen können, sondern ich werde außerdem noch von Ratten und Mäusen aufgefressen, die mich nachts keinen Augenblick schlafen lassen Wenn ich bitte, man möge mir gnädigst eine Katze ins Zimmer geben, die sie vertilge, so antwortet man mir, Tiere sind verboten. Daraufhin antworte ich: Aber, ihr Einfaltspinsel, wenn Tiere verboten sind, so müßten Ratten und Mäuse es auch sein.ˆ« Diese Sätze schreibt S. am 4. Oktober 1778 am Beginn der zweiten, über 11jährigen Gefangenschaft aus dem Staatsgefängnis von Vincennes an seine Frau. Solche und schlimmere Klagen füllen fast ebensoviele Seiten wie seine aus der jahrzehntelangen Haft geborenen literarischen Bilder eines Panoptikums der Ausschweifung. Sein Leben brachte S. nur deshalb nicht an den Rand des Wahnsinns, weil er sich mit seinen literarischen Phantasien ein Universum schaffen konnte, zusammengesetzt aus allem, was Menschen auf diesem Gebiet möglich ist. So rettete er seinen Kopf durch Schreiben. Doch es war der Kampf eines Sisyphos; die Gefängnismanuskripte wurden zensiert, gestohlen, konfisziert, verbrannt. Schließlich schrieb er die erste unvollendete Reinschrift seines Hauptwerks Les 120 Journées de Sodome ou l École du Libertinage (1785; Die 120 Tage von Sodom). Nur ein Teil davon tauchte 1904 wieder auf. Alle anderen Spuren des Werks sind verschwunden. Fast der Hälfte seiner Manuskripte ging es so. Besonders seine Nachkommen im 19. Jahrhundert lasen mit stummer Angst und vernichteten voller Ekel alles, was die Familie durch diesen Vorfahren kompromittieren konnte. So liegt sein Werk heute nur als Fragment vor. S. wurde 74 Jahre alt. Er verbrachte davon 31 Jahre in Gefängnissen, Armenhäusern, Irrenanstalten und unter Hausarrest, ohne geistiger Verwirrung zu verfallen. Viermal gelang es ihm zu fliehen. Einmal war er vier Jahre lang auf der Flucht und hetzte kreuz und quer durch Italien. Seit seinem 23. Lebensjahr wird er von der Polizei beschattet und gejagt. Er kennt die berüchtigsten Gefängnisse Frankreichs: Vincennes, Bastille, Bicêtre. Die Französische Revolution bringt ihm für drei Jahre die Freiheit. Er stilisiert sich zum Revolutionär und macht in den unteren Verwaltungsorganen von Paris Karriere, obwohl er die Revolution haßt, besonders aber die Jakobiner. Immerhin wird er für kurze Zeit zum Präsidenten seiner Sektion gewählt. Aber er, der in seiner Phantasie die ungeheuerlichsten Greuel ersann, schreckt davor zurück, der Terrormaschinerie der Jakobiner zu dienen. Schließlich wird er wegen seiner Sympathien für die Girondisten verhaftet, entkommt der Guillotine nur durch Zufall. Die Justiz von vier Gesellschaftssystemen findet Gründe, ihn einzusperren oder im Gefängnis zu lassen, das Ancien régime unter Ludwig XVI., Robespierres Terrorregime, die Napoleonische Herrschaft und die Restaurationsmonarchie unter Ludwig XVIII. Die letzten 14 Jahre lebt S. im Irrenhaus von Charenton, wo er mit den Insassen selbstverfaßte Theaterstücke einstudiert und aufführt, bis die napoleonische Verwaltung seine erfolgreichen Therapieversuche stoppt. Alle vereint die Angst vor der jede Ordnung gefährdenden Dimension seiner sexuellen Phantasien, die Angst vor einer Philosophie, die keinen Gott und keine Autorität außer der der Gewalt kennt und die so jegliche Form gesellschaftlicher Macht als verkommen und verbrecherisch entlarvt. In diesem Punkt geht S. viel weiter als Rousseau. Die Welt, in der Aristokratie und Kirche herrschen, schildert er als schwarze Utopie, in welcher der Verbrecher immer triumphiert, der Mörder ungestraft die Tugend vernichtet und sich damit obendrein im Einklang mit den Gesetzen der Natur befindet. S. entlarvt die gesamte Theodizee-Philosophie, jegliche Tugendlehre und die Ideen von Liebe, Gehorsam und Sittsamkeit sowie alle anerkannten Formen staatlicher Gewalt als böse Tricks einiger Wüstlinge, mit denen sie die Menschheit beherrschen. Er ist nicht der erste, der Macht als Lust und jede Form von Puritanismus als scheinheilig brandmarkt. Den Staat beschreibt bereits Thomas Hobbes als Ungeheuer, die Mächtigen als Monster und die Ordnung als naturnotwendige Mechanik des Bösen. S. verbindet die Macht mit der sexuellen Lust, mit jeder möglichen Perversion und verweist sie somit einhundert Jahre vor Freud in den Bereich der Psychopathologie. Dahinter erscheint die Utopie einer Gesellschaft auf der Grundlage repressionsfreier Sexualität. S. selbst nimmt sich als bestes Beispiel dafür, wie Gewalt Sexualität deformiert. Erst die Kerkermauern verwandeln seine sexuellen Phantasien in ein Panoptikum der Perversionen.
S. lebte in unentwegtem Kampf um einige kleine Freiheiten, in der Angst um den Verlust seiner Manuskripte, in ständiger Hoffnung auf Befreiung, in Furcht vor dem Wahnsinn und in dem Kampf, seine sensible Phantasie vor der äußeren Verrohung zu bewahren. Seine Klagen über die Deformationen, die in der Zwangsjacke entstehen, mit der man seine Sexualität zu töten versucht, sind der Schlüssel für seine Philosophie, seine Gesellschaftskritik, seine negative Anthropologie, für die dahinter hervorscheinende Utopie einer Welt herrschaftsfreier Lust und der Wiedervereinigung von Phantasie und Wirklichkeit in der Lust. Die Klagen benennen zugleich den Ort, an dem künftig die Deformation der Sexualität durch gesellschaftliche Systeme am deutlichsten erscheint, den Strafvollzug. In dem Moment, in dem die bürgerliche Gesellschaft mit dem Terror der Tugend sich anschickt, den Körper des einzelnen vollkommen in die Schranken der Scham zu weisen, um ihn damit berechenbarer zu machen, entdeckt S. die Phantasie als den einzigen noch möglichen Ort freier Lust, und er beschreibt die individuellen und gesellschaftlichen Deformationen, die aus solcher Schizophrenie entstehen. In diesem Punkt weist seine Analyse der Ursachen psychischer Erkrankungen über Freud hinaus und trifft sich mit heutigen Theorien zur Psychopathologie ganzer Gesellschaften, etwa bei Alexander Mitscherlich oder Mario Erdheim. S.s Panoptikum der Ausschweifung, das er in seinen 120 Tagen von Sodom und in seinem zweiten Hauptwerk, dem Doppelroman La nouvelle Justine ou les malheurs de la vertu, suivie de L Histoire de Juliette, sa sœur, ou les prospérités du vice (1797; Die neue Justine), in Bildern und Geschichten vor uns ausbreitet, ist nichts weniger als die vollständige Beschreibung aller pathologischen Formen der Lust, die durch die Herrschaft des Menschen über den Menschen möglich werden. S. entdeckt dabei das Gesetz, nach dem Herrschaft ständig versucht, sich zu perfektionieren und total zu werden: Je unkontrollierter Herrschaft ist, desto größer ist die Lust des Herrschenden an der Ohnmacht des Beherrschten. Das gilt nicht nur für die Beziehungen zwischen einzelnen, sondern für alle gesellschaftlichen Machtverhältnisse. So strebt jede Herrschaft danach, die Kontrollorgane, die ihr beigegeben sind, abzuschütteln oder zu überlisten. Das Gesetz, das wir in der Individualpsychologie Sadismus nennen, beschreibt S. deutlicher als alle seine Nachfolger auch als ein Grundprinzip gesellschaftlichen Machtstrebens und aller seiner Perversionen. Mitten in der Euphorie über die endlich hereinbrechende Utopie deckt er die schwarze Seite der Idee von der Perfektibilität der Gesellschaft und des Staates auf. Je besser ein Staat organisiert ist, desto größer die Deformation seiner Menschen. So bewegt sich die Geschichte nicht auf einen Endzustand des Glücks zu, sondern auf den des Unglücks, und damit, so S.s Fazit, befindet sie sich in Einklang mit den Gesetzen der Natur. Der Perfektibilitätsutopie der Aufklärung tritt er mit einer grenzenlosen Destruktionsutopie entgegen. Die Natur betreibt nicht die Vervollkommnung des Menschen zum Guten, sondern zum Bösen. In dem Roman Philosophie dans le Boudoir (1795; Die Philosophie im Boudoir) beschreibt S. die Grundlagen einer libertinen Republik. Sie funktioniert wie ein Superbordell. Der Mann kann uneingeschränkt über die Frau, der Reiche über den Armen verfügen. Die Sklavenkaste wird hingemordet für die Genußfreiheit der Herren. Diese Gesellschaft ist eine Ansammlung von Individuen ohne jegliche Bindungen, die ständig notzüchtigen oder genotzüchtigt werden. Die Konsequenz eines solchen Staates ist die Ausrottung der Menschheit. S. betreibt die Umkehrung der bürgerlichen und die Pervertierung der aristokratischen Wertordnung zugleich. Damit zeigt er die beiden Ordnungen innewohnenden Möglichkeiten. Alle Schrekken der zukünftigen Welt sind in dieser Umkehrbewegung mit eingeschlossen, auch jene der modernen negativen Utopien und der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Die Wende von der Utopie der Vervollkommnung der menschlichen Gesellschaft zur Zivilisationsskepsis, vor allem zur Skepsis gegenüber staatlicher Perfektion, vollzieht er gründlicher als Rousseau. S. beargwöhnt vor allem das Streben der Staaten nach Sicherheit und Berechenbarkeit und hält es, lange bevor sie diesem Ziel durch Wissenschaft und Technik näher kommen, für naturwidrig. In seinen Horrorwelten ist nichts sicher, am wenigsten das Leben. Aber hierin sind sie ein positives Gegenbild zu den Gefängniswelten, in denen er ohne Gefahr für Leib und Leben »sicher« dahinvegetierte und die ihm Sinnbild wurden für die Utopien, die den Herrschaftsformen vorschwebten, die S. kennengelernt hatte. Dagegen setzt er eine einzige helle Utopie in seinem Roman Aline et Valcour ou le roman philosophique (1793): ein Inselstaat, Tamoé genannt, der sich vor allem dadurch auszeichnet, daß es in ihm keine Verbrechen gibt, weil keine einzige Tat als Verbrechen definiert wird. So könnte S., heute gelesen, zum Anlaß werden, über die Ursachen der Psychopathogenese von Gesellschaften nachzudenken, und man könnte diese dann in deren Streben nach perfekter Sicherheit und lückenloser Planbarkeit auffinden.
Stobbe, Heinz-Günther: Vom Geist der Übertretung und Vernichtung. Der Ursprung der Gewalt im Denken des Marquis de Sade. Regensburg 2002. – Bezzola, Tobia (Hg.): Sade surreal. Der Marquis de Sade und die erotische Fantasie des Surrealismus in Text und Bild. Kunsthaus Zürich. Ostfildern-Ruit 2001. – Lely, Gilbert: Leben und Werk des Marquis de Sade. Düsseldorf 2001. – Lenning, Walter: Marquis de Sade. Reinbek bei Hamburg 1998. – Lever, Maurice: Marquis de Sade. Die Biographie. München 81998. – Raymond, Jean: Ein Porträt des Marquis de Sade. Bergisch Gladbach 1993. – Pauvert, Jean-Jacques: Der göttliche Marquis. Leben und Werk des Donatien-Aldonze-Frantçois de Sade, 2 Bde. München 1991. – Siegert, Michael: De Sade und wir. Frankfurt am Main 1971. – Das Denken von Sade, herausgegeben von »Tel Quel«. Mit Aufsätzen von Roland Barthes, Hubert Damisch, Pierre Klossowski, Philippe Sollers und Michel Tort. München 1969.
Michael Winter
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