Metzler Philosophen-Lexikon: Sartre, Jean-Paul
Geb. 21. 6. 1905 in Paris;
gest. 15. 4. 1980 in Paris
19. April 1980: Spontan begleiten 50 000 Menschen S.s Sarg zum Friedhof Montparnasse. Wochenlang beschäftigen sich Presse, Rundfunk und Fernsehen in Frankreich mit seinem Leben und Werk. Man nimmt Abschied von einer Epoche, die durch S.s Denken und Engagement geprägt war. »Schon jetzt fehlt uns seine Wachsamkeit«, schreibt eine Zeitung. Der entscheidende Impuls für S. und seine Generation, deren Kindheit vom Ersten Weltkrieg bestimmt war, ist das Unbehagen am herrschenden Neukantianismus, den S. als »Verdauungsphilosophie« bezeichnet: Die konkrete historische Welt wird von dieser Philosophie geschluckt und als abstrakter Begriff wieder ausgespuckt. Dagegen sucht diese Generation nach einem Denken, das weder die Sinnlichkeit und Tragik menschlicher Existenz noch das erdrückende Gewicht historischer Ereignisse und gesellschaftlicher Zustände in seiner Begrifflichkeit eskamotiert. Erste Anstöße zu einer Neuorientierung geben Kierkegaard, Husserl und später Hegel. 1929 beendet S. sein Philosophiestudium an der École Normale Supérieure und unterrichtet, mit Unterbrechungen, von 1931 bis 1944 an verschiedenen Gymnasien. Im Jahr seines Abschlußexamens macht er die Bekanntschaft Simone de Beauvoirs, mit der er eine lebenslange unkonventionelle Partnerschaft eingeht, die für viele zum Vorbild wird. Die Suche nach einer konkreten Darstellung der Welt läßt ihn zwischen Literatur und Philosophie schwanken. In seinem ersten Roman, La nausée (1938; Der Ekel), versucht er beide miteinander zu verbinden: Roquentin, der Ich-Erzähler, beginnt ein Tagebuch, um sich über den merkwürdigen Ekel klarzuwerden, der ihn plötzlich gepackt hat: Es ist der Ekel vor der Kontingenz und Sinnleere der bloßen Existenz. Das pure Vorhandensein der Dinge und Lebewesen, der Menschen und ihrer Körper – auch des eigenen Körpers –, der Stadt mit ihren gesellschaftlichen Konventionen wirkt rein zufällig und überflüssig, obwohl sie alle mit ihrer materiellen Anwesenheit den ganzen Raum einnehmen und uns ihren Widerstand entgegensetzen. Zwar läßt sich diese erdrückende Anwesenheit erklären und mit Wörtern benennen, doch wird damit ihre Kontingenz und Sinnleere nicht aufgehoben. Der Eindruck, daß die Sprache – namentlich die vorgeblich Wissen vermittelnde Sprache – menschliches Dasein nicht zu erfassen vermag, führt schließlich dazu, daß Roquentin seine historischen Studien über das abenteuerliche Leben eines Marquis des 18. Jahrhunderts abbricht. Roquentin hat ein einziges Erlebnis, das nicht vom Ekel begleitet wird, weil sich bei ihm jedes Element sinnvoll auf alle anderen bezieht und damit die Zufälligkeit des Existierenden nicht in Erscheinung tritt: das wiederholte Anhören einer Jazz-Platte. So bricht Roquentin auf mit dem Entschluß, etwas Ähnliches zu schaffen. Um den Entschluß, der Kontingenz konkreter Situationen durch Handlungsentscheidungen einen Sinn zu geben, deren Folgen gleichwohl unvorhersehbar sind, geht es in S.s Erzählungsband Le mur (1939; Die Mauer, später: Die Kindheit eines Chefs). So sehr diese Erzählungen, ebenso wie die Theaterstücke und Romane, von seiner Philosophie geprägt sind, so sind es doch niemals Thesenstücke, weil es ihm in suggestiver Weise gelingt, das Gewicht und die Unvorhersehbarkeit der Situationen, in die seine Personen geworfen sind, spürbar zu machen. Nach diesen Erzählungen schreibt er sein erstes philosophisches Werk: L imaginaire (1940; Das Imaginäre): »In diesem Buch versuchte ich zu zeigen, daß Vorstellungen keine neuerweckten oder vom Verstand bearbeiteten Empfindungen und auch keine vom Wissen veränderten und verminderten früheren Wahrnehmungen sind, sondern etwas ganz anderes: eine abwesende Realität, die sich gerade eben in ihrer Abwesenheit in dem kundtut, was ich ein Analogon genannt habe, das heißt in einem Objekt, das als Analogieträger dient und von einer Intention durchdrungen wird.«
Im September 1939 wird S. eingezogen und gerät am 21. Juni 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft. Die Erfahrung des Krieges und die davon geprägte Lektüre von Heideggers Sein und Zeit sollten sein weiteres Leben und Denken nachhaltig beeinflussen. So bildet er nach Heideggers Begriff »Sein zum Tode« den Begriff »Sein zum Kriege«. Schon diese Neubildung zeigt, daß S. den zeitlosen Heideggerschen Begriffen eine moralisch-politische Bedeutung gibt. Während sich Heidegger dem Nationalsozialismus verschrieben hatte, engagierte sich S. seit seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft für die radikale Linke. Aus S.s Lettres au Castor (1983; Briefe an Simone de Beauvoir) und den Carnets de la drôle de guerre (1983; Tagebücher) geht hervor, daß er in dieser Zeit, neben der Arbeit am Roman L âge de raison (1945; Zeit der Reife), mit der Niederschrift seines philosophischen Hauptwerks L être et le néant (1943; Das Sein und das Nichts) beginnt. Im März 1941 gelingt es ihm, mit gefälschten Papieren das Gefangenenlager in Trier zu verlassen und seinen Lehrerberuf in Paris wiederaufzunehmen. Noch unter deutscher Besatzung erscheint L être et le néant, das ihn nach dem Krieg weltberühmt machen sollte. Der Kerngedanke dieses Werks ist die Aufspaltung des Seins in zwei verschiedene Seinsweisen: Alles nicht-menschliche Sein existiert im Modus des An-sich-Seins, das heißt eines Seins, das einfach nur das ist, was es ist, also mit sich identisch ist. Dagegen existiert alles menschliche Sein im Modus des Für-sich-Seins, weil es durch die bloße Tatsache seines Bewußtseins (von) sich nicht mit sich selbst identisch ist, sondern »das ist, was es nicht ist, und nicht das, was es ist«. Die Einklammerung des »von« soll verdeutlichen, daß es sich hier nicht um ein Bewußtsein handelt, das sein »sich« zum Gegenstand hat, sondern daß Bewußtsein und »sich« identisch sind, also Sich-Bewußtsein. Doch nicht-identisch ist dieses Bewußtsein (von) sich oder Sich-Bewußtsein mit seinem Sein, weil es ja durch sein Für-sich-Sein für sich selbst in Frage steht, weil ihm mit seiner bloßen Existenz nicht das mit sich selbst identische Wesen des An-sich-Seins der nichtmenschlichen Dinge und Lebewesen gegeben ist. Genau das will die gängige existentialistische Formel sagen: »Die Existenz geht dem Wesen voraus.« Das nicht mit sich identische Für-sich-Sein schafft also eine Lücke im sonst lückenlosen mit sich identischen Sein des An-sich. Durch diese Lücke im Sein kommt Nichts oder, anders übersetzt, Nicht-Sein (»néant«) ins Sein, und das faßt der Titel Das Sein und das Nichts zusammen, den man auch mit »Das An-sich und das Für-sich« wiedergeben könnte. Diese Lücke im Sein, oder dieses Nicht-Sein des Für-sich, ist jedoch ein »Ruf nach Sein«, d.h., sie will sich mit Sein ausfüllen. Weniger terminologisch ausgedrückt: Da der Mensch als einziges Sein sich seiner Existenz bewußt ist und diese für ihn daher in Frage steht, ist er gezwungen, sich das Wesen, das er dieser Existenz verleihen will, durch sein Leben je erst zu schaffen. Doch so sehr auch dieser »Ruf nach Sein« anhält, solange er lebt, so wenig kann es ihm je gelingen, zur mit sich selbst identischen Seinsweise des An-sich zu gelangen, weil ja sein Bewußtsein (von) sich erst mit demTod endet. Deshalb bleibt er für immer dazu verurteilt, sich in die Welt des An-sich hinein zu »entwerfen«, sich zu »wählen«, ohne daß sein »Entwurf«, seine »Wahl« je etwas Abgeschlossenes, Endgültiges, eben Mit-sich-selbst-Identisches erlangen können. Er bleibt »zur Freiheit verurteilt«, aber seine Freiheit wird immer nur die Bewegung des Entwurfs, der Wahl auf sie hin sein. Diese Ungewißheit seiner Existenz ist Ursache für das grundlegende Gefühl der »Verlassenheit«, der »Angst«. Und diese Angst verleitet den Menschen oft dazu, daß er sein im Sein »nichtendes« Für-sich-Sein vor sich selbst verleugnet und sich vormacht, nach der Seinsweise des An-sich zu existieren. Sein Für-sich spielt dann die Rolle eines An-sich und befindet sich damit im Zustand der »Unaufrichtigkeit« (»mauvaise foi«). Erst wenn er sich darauf besinnt, daß er sich sein Wesen unablässig selbst zu wählen und dafür Verantwortung zu tragen hat, ohne daß die Aussicht besteht, diese Wahl könne ihn je zur Seinsweise des An-sich gelangen lassen, befindet er sich im Zustand der »Authentizität«.
Ihren dramatischen, ja in beide Richtungen bedrohlichen und gefährlichen Charakter erhält die Seinsweise des Für-sich jedoch – und darin unterscheidet sich S.s Philosophie grundlegend von der Heideggers – durch die Existenz anderer Menschen, anderer Für-sich: Wenn sich mehrere Für-sich begegnen, dann können sie aufgrund ihrer Seinsweise einander nur negieren, weil sie ja nur im Sein nichten können. Also versucht jeder jeden als ein zu nichtendes An-sich wahrzunehmen. Das geschieht durch den Blick des anderen: Dadurch, daß der andere mich, der ich mich selbst nicht sehen kann, anblickt, versteinert er mich zu einem An-sich, das ich nicht sein kann, so wie auch ich ihn durch meinen Blick zu einem An-sich versteinere, das er nicht sein kann. Demnach ist die primäre Beziehung der Menschen untereinander die agonistische Beziehung von einander versteinernden Medusenblicken. Diesen Zustand illustriert S. 1944 in seinem Theaterstück Huis clos (Geschlossene Gesellschaft), in dem die Protagonisten zu der Erkenntnis gelangen: »Die Hölle, das sind die anderen.« Die versteinernde Fähigkeit erhält der Blick des anderen durch das An-sichsein meines Körpers, der zur Kontingenz meiner Existenz gehört, da ich ihn mir ja nicht habe wählen können. Durch diese kontingente Körperlichkeit erfahren die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Sexualität eine weitere Dramatisierung: Denn gerade in seinem Körper will ich mir den anderen aneignen, um den Skandal eines mich nichtenden Für-sich aus der Welt zu schaffen. Zerstöre ich jedoch das Für-sich des anderen, dann eigne ich mir einen toten Körper an, lasse ich mir vom anderen mein eigenes Für-sich zerstören, dann eignet er sich einen toten Körper an. Daher sind sexuelle Beziehungen von einem Wechsel zwischen sadistischen und masochistischen Verhaltensweisen geprägt. Erst durch ein gemeinsames Streben nach Authentizität, bei dem jedes Für-sich dem anderen Für-sich teilweise und zeitweise Raum gibt, wird ein freies Miteinander der Menschen möglich.
Aus alldem ergibt sich, daß die von der Erfahrung des Krieges geprägte Illusionslosigkeit des S.schen Denkens zu strengen moralischen Konsequenzen führt, die dem Menschen absolute Verantwortlichkeit aufbürden, ihn aber dadurch auch zu unablässiger Kreativität anstiften. So schließt S. sein Werk mit »moralischen Perspektiven«: »Die wesentliche Konsequenz unserer vorangehenden Ausführungen ist, daß der Mensch, dazu verurteilt, frei zu sein, das Gewicht der gesamten Welt auf seinen Schultern trägt: Er ist für die Welt und für sich selbst als Seinsweise verantwortlich. Wir nehmen das Wort Verantwortlichkeitˆ in seinem banalen Sinn von Bewußtsein (davon), der unbestreitbare Urheber eines Ereignisses oder eines Gegenstands zu seinˆ, denn die schlimmsten Übel oder die schlimmsten Gefahren, die meine Person zu treffen drohen, haben nur durch meinen Entwurf einen Sinn; und sie erscheinen auf dem Grund des Engagements, das ich bin Diese absolute Verantwortlichkeit ist übrigens keine Hinnahme: sie ist das bloße logische Übernehmen der Konsequenzen unserer Freiheit.« Das heißt jedoch nicht, daß S. das erdrückende Gewicht unserer Determiniertheit durch die Faktizität unserer Geburt, die Kontingenz unseres Körpers, unserer Sozialisation, der sozio-ökonomischen Umstände und historischen Ereignisse übersieht oder verharmlost. Ganz im Gegenteil: Der moralische Appell, der sein ganzes Werk durchzieht, ergibt sich gerade daraus, daß er uns die unerträgliche Übermacht dieser Determiniertheit vor Augen führt. Aber aufgrund seiner philosophischen Überzeugungen hält er daran fest, daß erst durch den »Entwurf« diese Determiniertheit als unerträgliche Bedrohung der grundlegenden Freiheit wahrgenommen werden kann: »Bin ich es nicht, der ich, indem ich mich über mich entscheide, über den Widrigkeitskoeffizienten der Dinge entscheide bis hin zu ihrer Unvorhersehbarkeit?« So ist es letztlich dieser aus einem absoluten Pessimismus hervorgehende Optimismus, der die weltweite Wirkung von S.s Denken erklärt und sein eigenes linksradikales Engagement überall zu einem Vorbild macht. Am Schluß von L être et le néant kündigt S. folgerichtig eine »Moral« als Fortsetzung an. Daran hat er sein Leben lang gearbeitet, und diese Arbeit ist in seine anderen Werke eingegangen. Doch er hat sie nie abgeschlossen; erst posthum sind unter dem Titel Cahiers pour une morale (1983) Aufzeichnungen dazu erschienen.
Im Jahr 1943 illustriert S. seine Lehre von der Freiheit durch ein erstes Theaterstück Les mouches (Die Fliegen). Gleich nach dem Krieg veröffentlicht er die ersten beiden Bände des Romanzyklus Les chemins de la liberté: L âge de raison und Le sursis (1945; Die Wege der Freiheit: Zeit der Reife und Der Aufschub), in denen er – mit autobiographischen Reminiszenzen – zeigt, wie Menschen aus der scheinbaren Geschichtslosigkeit der Vorkriegsjahre in die Geschichtlichkeit des Zweiten Weltkrieges geworfen werden. Im selben Jahr schafft er sich mit der Gründung der Zeitschrift Les Temps Modernes ein Forum für seine Ideen. S.s schlagartige Berühmtheit, die ihn zugleich zu einem Skandalautor macht, führt zur existentialistischen Mode der Nachkriegsjugend, die seine Philosophie als Appell zu einer sich am Augenblick berauschenden exzentrischen Lebensweise mißversteht. Um diesem Mißverständnis und Angriffen von rechts und links entgegenzutreten, hält er am 29. Oktober 1945 vor großem Publikum einen popularisierenden Vortrag, dessen Veröffentlichung die verbreitetste Zusammenfassung seiner Philosophie werden sollte: L existentialisme est un humanisme (1946; Ist der Existentialismus ein Humanismus?).
Daß die trügerische Flucht des Für-sich in die Seinsweise des An-sich, wenn sie als kollektives Phänomen auftritt, zu Völkermord führen kann, legt S. in den Réflexions sur la question juive (1946; Betrachtungen zur Judenfrage) dar: Der Antisemit schreibt dem Juden die Seinsweise eines ihn bedrohenden An-sich zu, weil er auch sich selbst die Seinsweise eines An-sich zuschreibt, denn würde er den Juden als ein Für-sich erkennen, könnte er sich seine eigene Seinsweise eines Für-sich nicht verhehlen. So wird der Antisemitismus zu einer tödlichen Gefahr nicht nur für den Juden: »Kein Franzose »wird in Sicherheit sein, solange noch ein Jude in der ganzen Welt um sein Leben wird fürchten müssen«. Mit dem Theaterstück Morts sans sépulture (1946; Tote ohne Begräbnis) brandmarkt S. eine andere tödliche Form der Flucht des Für-sich in das An-sich: die Folter. Indem der Folterer dem Gefolterten jede Möglichkeit der freien Entscheidung nimmt, verwandelt er diesen ebenso in Abschaum wie sich selbst. S.s Erfahrungen aus seinen Reisen in die USA schlagen sich, außer in seinen brillanten Reportagen, in dem Stück La putain respectueuse (1946; Die respektvolle Dirne) nieder, in dem er die Rassenpolitik der Südstaaten geißelt.
Mit S.s Schrift Qu est-ce que la littérature? (1947; Was ist Literatur?) kommt das Schlagwort »engagierte Literatur« in Umlauf, das oft als Aufruf zu politischer Tendenzliteratur mißverstanden wurde. Der Begriff »Engagement« als literarisches Kriterium bedeutet vielmehr, daß Literatur fiktive Weltmodelle konstruiert, in denen dem Leser seine freie Verantwortlichkeit vorgeführt wird, weil sich aufgrund der literarischen Struktur solcher Modelle hinter jedem scheinbaren Zufall die vom Autor geschaffene Kausalität eines Sinns verbirgt. So ist jede Literatur ein Appell des Autors an die Freiheit des Lesers, der für die Zeit der Lektüre vom Druck der Kontigenz seiner Determiniertheit befreit ist. Aus diesem Grund kann es keine reaktionäre Literatur geben. Um die grundsätzliche Problematik des Verhältnisses von Zweck und Mittel innerhalb revolutionärer, um Befreiung kämpfender Bewegungen geht es in den Theaterstücken Les mains sales (1948; Die schmutzigen Hände) und Le diable et le bon Dieu (1951; Der Teufel und der liebe Gott). Der Legitimierung einer Gegen-Moral ist S.s Werk über den von der Strafjustiz verfolgten Skandalautor Jean Genet gewidmet, dessen gesammelte Werke er durch seine umfangreiche Einleitung in die offizielle Literatur einführt: Saint Genet, comédien et martyr (1952; Saint Genet, Komödiant und Märtyrer): Wenn sich die Moral des »Guten« als das Repressionssystem einer vor dem Für-sich fliehenden Kollektivität erweist, bleibt dem Für-sich nur die Revolte einer Gegen-Moral des »Bösen«, nach der man das Böse, das die Gesellschaft der Guten einem als Wesen zuschreibt, bewußt tut. Das Genie Genets besteht jedoch in der Erkenntnis, daß das Böse um des Bösen willen tun nicht so subversiv ist, wie das Lob des Bösen in die Literatur einzuschmuggeln, so daß der verführte Leser das Böse schließlich in sich selbst entdeckt und an seiner Moral des Guten irre wird.
Das politische Engagement S.s hat verschiedene Stadien durchschritten: 1941 versuchte er, eine Widerstandsgruppe gegen die deutsche Besatzung aufzubauen, von 1948 bis 1949 ist er Gründungs- und Vorstandsmitglied des kurzlebigen »Rassemblement Démocratique Révolutionnaire«, das einen neutralistischen Sozialismus durchzusetzen versucht. Auf dem Höhepunkt des kalten Krieges nimmt er 1952 in kritischer Solidarität Partei für die kommunistische Partei Frankreichs, die Weltfriedensbewegung und die Sowjetunion, was zum Bruch mit Maurice Merleau-Ponty und Albert Camus führt. Doch mit seiner Verurteilung der sowjetischen Intervention gegen den Ungarnaufstand (1956) kündigt er diese kritische Solidarität wieder auf. Die Jahre von 1958 bis 1962 sind vom Engagement gegen den Algerienkrieg geprägt, das mit S.s offener Unterstützung der illegalen Hilfsorganisation für französische Deserteure und algerische Freiheitskämpfer seinen Höhepunkt erreicht. 1961 und 1962 verübt die OAS Bombenanschläge auf seine Wohnung. Mit dem Stück Les séquestrés d Altona (1959; Die Eingeschlossenen von Altona) überträgt S. das Problem der Beteiligung am Terror gegen die algerische Bevölkerung auf einen deutschen Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs. Und in seinem Vorwort zu Frantz Fanons Manifest der antikolonialistischen Befreiungsbewegungen, Les damnés de la terre (1961; Die Verdammten dieser Erde) begrüßt er die Gegengewalt der Kolonisierten.
S. veröffentlicht 1960 sein zweites philosophisches Hauptwerk Critique de la raison dialectique (Kritik der dialektischen Vernunft), in dem er die Summe aus seinen politischen Erfahrungen zieht. Dabei versucht er, seiner Philosophie eine marxistische Grundlegung zu geben. Die Stelle des An-sich-Seins nimmt jetzt die erstarrte Praxis der handelnden Individuen ein, die dieser ebenso gegenüberstehen wie das Für-sich dem An-sich: Vom Bedürfnis getrieben, macht der Mensch einen freien Plan zur Veränderung seiner Umwelt. Sein gesamtes praktisches Feld wird der Verwirklichung dieses Plans unterworfen, es wird totalisiert. Mit der Objektivierung dieser Praxis wird die Totalisierung jedoch angehalten, weil sich die Praxis in ihrem Resultat mit der Trägheit der Materie hat affizieren müssen – wie das Für-sich mit dem An-sich. Gegenüber der Totalität des Plans ist das Ergebnis also partikulär. Doch nur scheinbar, denn gerade die Trägheit der Materie überträgt die Veränderungen der Praxis auf die nicht totalisierten Bereiche des praktischen Feldes, d.h. sie ruft nicht geplante und nicht voraussehbare Veränderungen hervor. So wirkt diese mit Praxis affizierte Trägheit, oder das Praktisch-Inerte, als Gegen-Finalität auf die geplante Praxis zurück. Dadurch werden neue Pläne hervorgerufen, die diese Gegen-Finalität in das erweiterte praktische Feld integrieren, damit die angehaltene Totalisierung wieder in Gang bringen und weiter treiben. Die Objektivierung, die partikulär erschien, erweist sich somit als total, und der Plan zur Veränderung der Umwelt, der total sein sollte, erweist sich als partikulär. Doch nur dadurch, daß sich der partikuläre Plan als total setzt, kann das totale Ergebnis als partikuläres auf ihn zurückwirken. Diese Entfremdung der Praxis nimmt jedoch erst durch den Mangel die Form an, die uns zu Menschen dieses Planeten macht: Die Gegen-Finalität des Praktisch-Inerten wird vermittelt und verstärkt durch die Praxis des anderen, der unser Todfeind ist, weil er uns durch die Befriedigung seiner Bedürfnisse die Möglichkeit nimmt, unsere eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Dieser Kampf auf Leben und Tod manifestiert sich in der Tatsache, daß nach einer Jahrtausende währenden Menschheitsgeschichte die Mehrheit immer noch überzähligˆ ist, deshalb verhungert, getötet wird oder eine Minderheit ernähren muß. Diese Überzähligen erleben ihr Leben als Unmöglichkeit des Lebens. Da aber diese Unmöglichkeit unmöglich ist, werden sie immer wieder dazu getrieben, freie Pläne zur Veränderung ihrer Umwelt zu machen. Das ist jedoch erst in der »Gruppe« möglich, denn nur wenn sie ihre potentielle Freiheit mit der Freiheit der ebenso Bedrohten multiplizieren, können sie den Kollektiven entkommen, in denen sie als austauschbare Serienmitglieder Gegenstand der Praxis anderer sind. So wie die Praxis ganz allgemein die Trägheit ihrer Instrumente benutzt, um auf die Trägheit der Umwelt einzuwirken, so benutzt die Gruppe die Zahl ihrer Mitglieder als Instrument, um sich von der Herrschaft der Zahl des Kollektivs als bloßer Austauschbarkeit zu befreien. Aus austauschbaren Anderen werden Gleiche. Aber die Furcht, daß die Gruppe zerfallen und damit die gerade errungene Freiheit verlieren könnte, führt dazu, daß sie sich selbst mit Trägheit affiziert: Treueid, Terror-Brüderlichkeit, Arbeitsteilung, Funktion, Institution, Hierarchie sind die Stufen dieser Selbsterhaltung der Gruppe, die ihre Freiheit schließlich auf ein einzelnes Individuum überträgt. Der Versuch jedoch, die Gruppe zu einem individuellen Organismus zu machen, scheitert an der Unüberschreitbarkeit der individuellen Praxis und läßt sie in den Status der Serie zurückfallen. Ebenso wie auf der psychischen Ebene von L être et le néant muß auch auf der sozio-historischen Ebene die Freiheit immer wieder ihrer Entfremdung abgerungen werden. Wie dort ist sie nur in der Bewegung auf sie hin zu erreichen: die globale permanente Revolution.
In ganz anderer Form schlägt sich S.s politische Erfahrung in seinen Kindheitserinnerungen nieder, die er 1963 unter dem Titel Les mots (Die Wörter) veröffentlicht. Er schildert hier sein bisheriges Schriftstellerdasein als eine Neurose, in der reale Dinge mit Wörtern verwechselt werden. S. lehnt 1964 die Annahme des Nobelpreises für Literatur als Vereinnahmungsmanöver ab; 1967 übernimmt er den Vorsitz des Russell-Tribunals gegen die Kriegsverbrechen der USA im Vietnamkrieg; von 1968 an beteiligt er sich aktiv an der linksradikalen Protestbewegung und übernimmt die Herausgabe strafrechtlich verfolgter linksradikaler Zeitschriften wie La cause du peuple, die er selbst auf der Straße verteilt. 1973 gründet er die Zeitung Libération.
Sein letztes und umfangreichstes Werk erscheint 1971/72: L idiot de la famille. Gustave Flaubert 1821 à 1857 (Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821...1857). Am Ende von L être et le néant hatte S. eine existentielle Psychoanalyse entworfen, die an konkreten Beispielen die Dialektik von Determiniertheit und Wahl darlegt; sie soll aufzeigen, wie ein Individuum seine Determiniertheit überwindet, indem es sie annimmt und sich dadurch zu dem macht, was es ist. S. hatte das später an den Beispielen Baudelaire (1947), Mallarmé (1986; Mallarmés Engagement), Genet und Tintoretto vorgeführt, bevor er sich an seine monumentale Studie über Flaubert machte, der ihn sein Leben lang beschäftigt hatte.
Dieses Werk ist eine angewandte Summe seiner Philosophie: S. selbst betrachtet es sowohl als Fortsetzung von L imaginaire wie der Critique de la raison dialectique. Er versucht hier die Entsprechung von individuellem und kollektivem Entwurf einer ganzen Epoche nachzuweisen, die Entsprechung von dem, was er subjektive und objektive Neurose nennt. Die subjektive Neurose Flauberts besteht darin, daß er in seinem Leben und Werk wie entweichendes Gas ins Imaginäre hinausstrebt, daß Flaubert die verhaßte Realität nur benutzt, um deren Nichtigkeit aufzudecken. Der Erfolg seiner Bücher liegt darin begründet, daß auch die Leser vor der Realität ins Imaginäre fliehen, indem sie die gesellschaftliche Lüge des Zweiten Kaiserreichs leben. Doch gerade in solcher Flucht ins Imaginäre ist das ganze Gewicht der Realität mit ihrem unverwechselbaren Geschmack gewissermaßen in Hohlform vorhanden. Dieses letzte Werk S.s ist sicher eine der größten Herausforderungen für den Strukturalismus, der mit seinem radikalen Paradigmawechsel den Existentialismus in den 60er Jahren ablöst und als Irrweg angreift: Es bleibt zu fragen, ob das Denken von S. die Positionen des Strukturalismus nicht implizit als Untersuchung des Praktisch-Inerten integriert, als Stadium der analytischen Vernunft in seiner Dialektik überschreitet und im Hegelschen Doppelsinn »aufhebt«.
Lévy, Bernard-Henri: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts. München/Wien 2002. – Töllner, Uwe: Sartres Ontologie und die Frage einer Ethik. Frankfurt am Main 1996. – Cohen-Solal, Annie: Sartre. Reinbek bei Hamburg 1988. – Hayman, Ronald: Jean-Paul Sartre. München 1988. – König, Traugott (Hg.): Sartre. Eine Konferenz. Reinbek bei Hamburg 1988. – Danto, Arthur C.: Jean-Paul Sartre. Göttingen 1986. – Hartmann, Klaus: Die Philosophie Jean-Paul Sartres. Berlin 1983. – Seel, Gerhard: Sartres Dialektik. Bonn 1971.
Traugott König
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