Metzler Philosophen-Lexikon: Schlick, Moritz
Geb. 14. 4. 1882 in Berlin;
gest. 22. 6. 1936 in Wien
Wenn die Philosophie des »Wiener Kreises«, der Logische Empirismus, heute als eine der Hauptströmungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts gilt, so ist dies vor allem das Verdienst Sch. s., ihres Begründers. Sch. beginnt seine akademische Ausbildung mit dem Studium der Physik und promoviert 1904 in Berlin bei Max Planck über ein Problem der Lichtreflexion. Seine Veröffentlichungen nach der Promotion und während der Lehrtätigkeit in Rostock (von 1911 bis 1921) und Kiel (von 1921 bis 1922) als Professor für Naturphilosophie und Ethik zeigen, daß seine Interessen weit über einzelwissenschaftliche Fragen der Physik hinausgehen. Er schreibt über Ethik, Ästhetik, Logik sowie über Grundlagenfragen der Mathematik und der Naturwissenschaft. Seine Beschäftigung mit neueren Entwicklungen der Mathematik und mit der Einsteinschen Relativitätstheorie veranlaßt ihn, im Anschluß an die Arbeiten von Henri Poincaré und Hermann von Helmholtz, zu einer Kritik der Auffassung Kants, der die Sätze der Mathematik und die Grundsätze der Newtonschen Physik als synthetisch a priori bestimmt. Ist ein Satz a priori, d.h. von der Erfahrung unabhängig, so ist er immer zugleich analytisch, d.h. ohne einen unsere Erkenntnis erweiternden Wirklichkeitsgehalt. Dies gilt nach Auffassung des logischen Empiristen Sch. für sämtliche Sätze der Mathematik und der Logik, während die Sätze der Naturwissenschaften synthetisch, d.h. erkenntniserweiternd sind, und damit notwendigerweise empirisch oder a posteriori, weil durch Erfahrung jederzeit widerlegbar.
In seinem Hauptwerk Allgemeine Erkenntnislehre (1918) gibt Sch. eine systematische Darstellung seines in der Nachfolge David Humes stehenden Empirismus und seines erkenntnistheoretischen Realismus. Sch.s Bestimmung des Erkenntnisbegriffs ist in metaphysikkritischer Absicht an der Praxis des Erkennens im Alltag und in den empirischen Wissenschaften orientiert. Der Begriff des Erkennens wird scharf abgegrenzt vom Begriff des Erlebens. Im Zustand des Erlebens steht ein Subjekt in Beziehung zu nur einem erlebten Objekt. Im Prozeß des Erkennens dagegen setzt das Subjekt den zu erkennenden Gegenstand in Beziehung zu anderen Gegenständen, durch die er erkannt wird, indem er einem Begriff untergeordnet wird, den er mit diesen gemeinsam hat. Nicht auf den Erlebnisgehalt eines Gegenstandes kommt es beim Erkennen an, sondern auf seine eindeutige begriffliche Bestimmung. Entsprechend ist ein Erkenntnisurteil wahr genau dann, wenn die durch es ausgedrückte Beziehung zwischen den Gegenständen eindeutig einer Tatsache der erkenntnisunabhängigen Wirklichkeit zugeordnet werden kann. Wirklich sind alle Gegenstände, die sich eindeutig in ein räumliches und/oder zeitliches Bezugsschema einordnen lassen. Sie sind nach Sch.s realistischer Auffassung identisch mit den Kantischen Dingen an sich. Kants Behauptung, die Dinge an sich seien im Gegensatz zu ihren Erscheinungen unerkennbar, beruht nach Sch.s Meinung auf einer Nichtbeachtung des Unterschieds zwischen Erleben und Erkennen. Daß etwas, wie eben die Dinge an sich, nicht erlebt werden kann, muß nicht notwendigerweise heißen, daß es auch nicht erkennbar ist. Die Verwechslung dieser beiden Begriffe hat auch über Kant hinaus vielfach zu metaphysischen Irrtümern und Scheinproblemen geführt. So z.B. in der Phänomenologie Husserls, der die intuitive Erfassung des Wesens der Gegenstände, die »Wesensschau«, als eine der wissenschaftlichen übergeordnete Form der Erkenntnis betrachtet. Nach Sch. liegt hier kein Erkennen, sondern bloßes Erleben vor.
Im Jahr 1922 folgt Sch. einem Ruf der Universität Wien und übernimmt dort in der Nachfolge von Ernst Mach und Ludwig Boltzmann den Lehrstuhl für Philosophie der induktiven Wissenschaften. Auf Sch.s Initiative hin finden bald regelmäßige Diskussionen über philosophische Probleme statt, an denen neben Philosophen hauptsächlich Mathematiker und Naturwissenschaftler, darunter Rudolf Carnap und der Logiker und Mathematiker Kurt Gödel, beteiligt sind. Die Diskussionsteilnehmer gründen 1928 unter dem Vorsitz von Sch. den »Verein Ernst Mach« der als »Wiener Kreis« in die Philosophiegeschichte eingegangen ist. Die Philosophen des Wiener Kreises unterziehen die Sätze der Metaphysik einer logischen Analyse und lehnen sie als sinnlos ab. Sinnvoll sind nur empirische Sätze sowie Sätze der Logik und Mathematik. Das Ziel ihrer Bemühungen sehen sie in der Erarbeitung einer wissenschaftlichen Weltauffassung, dargestellt in einer an den Methoden der Physik orientierten Einheitswissenschaft. Hauptsächlich durch den Einfluß Carnaps und Wittgensteins, dessen Tractatus logico-philosophicus (1921) die Philosophie des Wiener Kreises wesentlich beeinflußte, änderte Sch. einige seiner früheren Ansichten. An die Stelle der Untersuchung von Voraussetzungen des Erkennens tritt die sprachkritische Klärung des Sinns von Sätzen der Wissenschaft. Der Sinn eines Satzes ist die Methode seiner Verifikation, d.h. ein Satz ist sinnvoll genau dann, wenn sich die Bedingungen angeben lassen, unter denen er wahr ist. Die Verifikation eines Satzes, die Entscheidung, ob er wahr oder falsch ist, obliegt nicht der Philosophie, sondern ist Angelegenheit der Wissenschaft, die diesen Satz aufgestellt hat, und geschieht durch einen Vergleich des Satzes mit dem durch ihn formulierten wirklichen Sachverhalt. Diese Art der Verifikation führt zu Schwierigkeiten beim Nachweis der Gültigkeit allgemeiner Sätze, über deren Wahrheit eben wegen ihrer Allgemeinheit nicht durch direkten Vergleich mit der Wirklichkeit entschieden werden kann. Sie müssen deshalb auf einfache, unmittelbar verifizierbare Aussagen, auf sog. Konstatierungen der Form: »Ich nehme hier und jetzt dieses oder jenes wahr«, reduziert werden. Die Unmöglichkeit einer endgültigen und vollständigen Verifizierung allgemeiner Sätze – jede wahre Konstatierung ist nur eine weitere, aber nicht hinreichende Bestätigung des Satzes – gab Karl Popper Anlaß zur Aufstellung seiner Falsifikationstheorie.
Sch. gehört zu den wenigen Mitgliedern des Wiener Kreises, die sich ausführlich zu ethischen Problemen geäußert haben, u. a. in Fragen der Ethik (1930). Er erkennt keine absoluten ethischen Werte an. Welche Handlungen als »gut« bezeichnet werden, ist abhängig von den in einer Gesellschaft aufgestellten Normen, deren Untersuchung Gegenstand der Soziologie und Psychologie ist. Sch. vertritt einen eudaimonistischen Standpunkt. Der Mensch soll danach streben, seine Glückseligkeit zu vermehren, die sich dann einstellt, wenn er frei vom Diktat des zweckgebundenen Handelns einer Tätigkeit um ihrer selbst willen nachgeht, wenn sein Handeln dem Spielen eines Kindes gleicht. Am 22. Juni 1936 wird Sch. auf dem Weg zu einer Vorlesung von einem geistesgestörten Studenten erschossen. Die Hintergründe des Mordes wurden nie ganz geklärt. Mit dem Tode Sch.s enden die Treffen des Wiener Kreises. Das Erstarken des Austrofaschismus zwingt viele seiner Mitglieder zur Emigration.
MacGuinness, Brian (Hg.): Zurück zu Schlick. Wien 1985. – Schleichert, Hubert (Hg.): Logischer Empirismus. Der Wiener Kreis. München 1975.
Martin Drechsler
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.