Metzler Philosophen-Lexikon: Sennett, Richard
Geb. 1. 1. 1943 in Chicago/Illinois
»Die erste Quelle der Ungleichheit unter den Menschen«, so Jean-Jacques Rousseau im Discours sur l inégalité (1756), nimmt ihren Ausgang im Überschreiten oder Nichtüberschreiten natürlicherˆ Grenzen, im Erlangen oder Nichterlangen persönlicher Fähigkeiten und sozialer Kompetenzen: »Während die einen sich vervollkommnet oder verschlechtert und verschiedene, gute oder schlechte Eigenschaften erworben haben, die ihrer Natur nicht inhärent waren, verblieben die anderen länger in ihrem ursprünglichen Zustand.« Das dergestalt am Übergang zur Moderne aufgeworfene Problem der sozialen Ungleichheit sollte zweihundert Jahre später – nun am Übergang zur Postmoderneˆ – zu einer zentralen Erfahrung S.s und zum Generalthema seines Werkes werden. S.s persönlicher Werdegang und seine Schriften spiegeln nicht nur, wie wir noch sehen werden, den historisch letztlich unauflöslichen Zusammenhang von gesellschaftlich ungleich verteilten Chancen zur Ausbildung von Talenten und Fertigkeiten sowie deren sozialer Anerkennung einerseits und der damit einhergehenden Fortschreibung sozialer Unterschiede andererseits wider. Sie offenbaren darüber hinaus, daß erst die Möglichkeit des angeleiteten Erlernens, der beharrliche Drang zur perfekten Beherrschung und das (selbst)bewußte Praktizieren einer sozialen und kulturellen Ausdruckspraxis den einzelnen in ein neues, reflexives und grenzüberschreitendes Verhältnis zu setzen vermag: in der Erfahrung und im Ausdruck seiner selbst, in der Wahrnehmung der sozialen anderen und im Verhalten ihnen gegenüber sowie in der Beobachtung und im Beschreiben der sozialen Wirklichkeit.
Cabrini Green, jenes Armenviertel von Chicago, in dem S. aufwächst, prägt seine Erfahrung sozialer Unterschiede und sensibilisiert ihn nachhaltig für deren besondere Komplexität. Das geringe Selbstwertgefühl der Menschen ebenso wie ihr durch wechselseitige Mißachtung und Gewalt bestimmtes Zusammenleben – so die spätere Erkenntnis des Professors für Geschichte und Soziologie am College of Arts and Science der New York University sowie für Cities-Programme an der London School of Economics – wird durch verdeckte, subtil wirkende, wenn überhaupt, erst dem zweiten Blick sich erschließende, gesellschaftliche Macht- und Kontrollstrukturen in seinen Bedingungen, Abläufen und Konsequenzen hervorgebracht und auf Dauer gestellt. Die zweckrationale, steril-monotone Gebäudearchitektur und die geometrisch-gitterförmige Anlage der Trabantensiedlung leisten einen augenfälligen Beitrag zur Verarmung der sinnlichen Wahrnehmung, zur Verödung und Trivialisierung des öffentlichen Raumes, zum Rückzug der Menschen in die soziale Intimität und politische Passivität – und schließlich zur Erosion des Selbstvertrauens und zur Zerstörung der menschlichen Würde. Der soziale Aus- und Aufstieg aus den engen Grenzen dieser bedrohlichen Welt gelingt dem jungen S. durch die Musik: Er lernt Cello, komponiert und hat Erfolge bei öffentlichen Auftritten. Das Studium der Musikwissenschaften und des Violoncello in New York muß er aufgrund einer fehlgeschlagenen Operation an seiner linken Hand aufgeben, worauf er zunächst bei David Riesman in Chicago, dann bei Talcott Parsons in Harvard Soziologie und später Geschichte zu studieren beginnt.
Nicht nur räumlich, auch thematisch bleibt S. der Stadt seiner Kindheit verbunden und den in ihr gemachten Erfahrungen verhaftet. Seine frühen, den sozialreformerischen Anspruch noch stolz im Titel tragenden Studien behandeln die soziale Deprivation durch Wohnverhältnisse (Families against the City, 1970), die in der Architektur zu Stein gerinnende Ordnung der Macht (The Uses of Disorder, 1970) und die Hartnäckigkeit sozialer Klassenunterschiede am Beispiel von Chicago (The Hidden Injuries of Class, 1972 mit Jonathan Cobb). Die historischen, kulturellen und sozialen Ursprünge der Vereinzelung, Orientierungslosigkeit und Ohnmacht moderner Individuen, der Oberflächlichkeit und Instabilität zwischenmenschlicher Beziehungen sowie der Ausübung von Herrschaft durch die Kontrolle sozialer Raumund Zeitkategorien sollen ebenso wie die Suche nach Antworten auf diese grundlegenden gesellschaftlichen Probleme die beherrschenden Themen S.s bleiben. Die hohe Aktualität, insbesondere aber die unkonventionelle Methode der Aufarbeitung und der eingängige Stil in der Darstellung dieser Themen ließen seine Bücher zu Bestsellern avancieren, machten ihren Verfasser zum Vorsitzenden und Berater renommierter Institutionen (New York Institute for the Humanities, 1975 bis 1984; International Committee on Urban Studies der UNESCO, 1988 bis 1993; Council on Work der UNESCO, seit 1996) und verschafften ihm auch außerhalb der Universitäten den Ruf eines angesehenen und gefragten Sozialphilosophen, Kultursoziologen und Gesellschafts- und Zivilisationskritikers.
Innerhalb der Profession sind es jedoch gerade S.s Verfahren und seine Darstellungsform, die teilweise heftige Kritik und Ablehnung hervorrufen. Selbstsicher, kunstvoll und leichtfüßig – für manchen jedoch leichtfertig, gleich einem Flaneur ziellos umherschweifend – wechselt S. die Perspektiven und Brennweiten, überschreitet Gattungsgrenzen und bedient sich dabei gezielt – was selten übersehen, in seinen Konsequenzen aber kaum bedacht wird – einer für die Sozialwissenschaften klassischen Form der Aufbereitung und Darstellung, die er zudem meisterhaft beherrscht. Seine Essays zeichnet aus, daß sie in oft überraschender Weise persönliche Erfahrungen neben kulturhistorische Materialien und Alltagsgeschichten neben philosophische Reflexionen setzen, nur um sie in ein kontextuelles Gewebe aus Bezügen zu Anthropologie, Philosophie, Geschichtswissenschaft, Soziologie, Psychoanalyse, Literatur und immer wieder zur darstellenden Kunst – allen voran und an herausgehobener Stelle zur klassischen Musik – einzuspannen.
Indem S. mit Verschiebungen und Überlagerungen die vertraute Linearität und narrative Kohärenz konventioneller wissenschaftlicher Abhandlungen durchbricht, gelingt es ihm, ein Bewußtsein für Details und Zusammenhänge zu wecken, deren Auswirkungen die Menschen zwar unmittelbar erfahren, die aber weder der nahe Alltagsblick noch die distanzierte sozialwissenschaftliche Analyse allein zu erfassen, zu durchdringen oder gar zufriedenstellend zu erhellen imstande sind. Die besondere Haltung des Musikers und das Ausdrucksvermögen des Romanciers (The Frog Who Dared To Croak, 1982; An Evening Of Brahms, 1984; Palais Royal, 1987) verleihen den Essays eine Eindringlichkeit und ein Komplexitätsniveau, die dem zur Ausleuchtung gewählten Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit gerecht zu werden versuchen – nicht durch die Konstruktion eines vollständigen, festgefügten Rasters harterˆ Begriffe und abschließender Theorien, sondern durch die Entfaltung einer Form des Beobachtens, Theoretisierens und Darstellens, deren eigentümliche Erkenntnischance gerade darin besteht, daß das forschende Umkreisen der Dinge die vielfältigen Verknüpfungen im Entstehen und Vergehen kultureller Bedeutung zu sondieren vermag, dabei selbst jedoch weder zur Ruhe noch zu Ende kommen kann.
Die im 19. Jahrhundert einsetzenden ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen des nationalen Industriekapitalismus zerstören ein intaktes Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Der aus der protestantischen Ethik geborene »Geist des Kapitalismus« (Max Weber) beginnt, das in der Epoche der Aufklärung noch existente Gleichgewicht zwischen öffentlicher Sphäre und privatem Leben auszuhöhlen. Anders als bei Émile Durkheim führt die aufkeimende Anomie für S. nicht zum vollständigen Rückzug der Individuen aus der Gesellschaft, sondern zur Versenkung in eine kaum minder destruktive Tyrannei der Intitimitätˆ: Wo das Selbst zum Zentrum der Aufmerksamkeit und sein Gefühlsleben zum Grundprinzip der Gesellschaft werden, da verlieren die Individuen ihre expressiven Fähigkeiten, zerfällt der Wert und die Realität des öffentlichen Lebens (The Fall of Public Man, 1974; Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität). Zugleich kann die Moderne die Verheißungen der Aufklärung nicht einlösen, werden die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung vom Korsett einer rational-methodischen Lebensführung überformt. S. erkennt im rationalisierten Gebrauch der Zeit und in der rationalen Ordnung des Raumes nüchtern und präzise operierende Instrumente zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Machtstrukturen. Gleich Gitternetzen durchgliedern sie den Alltag selbst in seinen feinsten Verästelungen und determinieren die Ausbildung sinnlich wahrnehmbarer Formen: in den Körpern, den Empfindungen und im Ausdrucksverhalten der Menschen ebenso wie in der Arbeitsorganisation, der Architektur und in der Städteplanung (The Conscience of the Eye. The Design and Social Life of Cities, 1990; Flesh and Stone. The Body and the City in Western Civilization, 1994; Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation). Das Streben nach Macht als sozialformende Kraft ist unhintergehbar. Es erlangt seine Institutionalisierung, indem es die sozialen Unterschiede in die Rationalität einer bürokratischen Hierarchie überführt; seine stets drohende Pervertierung sieht S. dort, wo diese Überführung unter die irrationalen Vorzeichen einer totalitären Auffassung der Erlangung und Ausübung von Herrschaft gerät (Authority, 1980; Autorität).
Der seit Mitte des 20. Jahrhunderts, dem Beginn der Postmoderneˆ, global sich ausbreitende neoliberale Kapitalismus beginnt das »stahlharte Gehäuse« (Max Weber) des bürokratischen Kapitalismus zu demontierten. Doch die neuen, die Menschen aus den rigiden Raum-, Zeit- und Arbeitsstrukturen freisetzenden Anforderungen zur Flexibilität in netzwerkartigen Organisationsformen camouflieren nur das alte, anonym und subtil fortwirkende Macht- und Ungleichheitssystem. Sehr viel schwerer aber wiegt für S., daß die Herauslösung aus den vertrauten, stabilen und verläßlichen, weil langfristigen Bindungen im Widerspruch steht zu den menschlichen Grundbedürfnissen nach sozialer Akzeptanz, nach Halt und Richtung, Kohärenz und Kontinuität. Der Wert der Arbeit verarmt, das Leben verliert seinen Rhythmus und wird fragmentarisch, was fatale Auswirkungen auf die Ausbildung von persönlicher Identität und die Entwicklung von Charakter (The Corrosion of Character. The Personal Consequences of Work in the New Capitalism, 1998) sowie auf die Wahrnehmung der sozialen anderen und die Ausgestaltung der Beziehungen zu ihnen hat (Respect in a World of Unequality, 2002).
S. teilt weder die romantizistische Gemeinschaftssehnsucht der Kommunitaristen, noch schließt er sich der von soziologischen Zeitdiagnostikern gelegentlich hoffnungsvoll vertretenen These einer Nivellierung sozialer Unterschiede an. Vielmehr plädiert er für eine urbane Öffentlichkeit nach dem Vorbild der antiken Stadt und der griechischen Agora. In ihnen setzen sich die Menschen den letztlich unauflöslichen gesellschaftlichen Unterschieden unmittelbar und bewußt aus, lernen das Unbekannte und Uneinheitliche im Sozialen (an)erkennen und ertragen, indem sie im taktvollen Miteinander wechselseitigen Respekt bekunden und so jedem einzelnen ein Dasein in Würde erlauben. Die Gestaltung eines neuen Gleichgewichts zwischen Individuum und Gesellschaft setzt somit jene Handlungskompetenz voraus, die Erving Goffman zum Gegenstand seiner Soziologie machte: den bewußten und kultivierten Umgang mit alltäglichen Interaktionsritualen. Das mühevolle Einüben, souveräne Beherrschen und expressive Aufführen kultureller Ausdruckspraktiken, für die bei S. die darstellenden Künste und abermals die Musik das Modell abgeben, läßt die Individuen nach außen und über sich selbst hinaus treten. Sie ermöglichen es ihnen, die natürlichenˆ Grenzen der Individualität und des Sozialen zu überschreiten; nicht um diese Grenzen aufzulösen, sondern – so S.s Hoffnung auf eine zukünftige Moral – um sie anders wahrzunehmen und neu auszuhandeln.
Jürgen Raab
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.