Metzler Philosophen-Lexikon: Serres, Michel
Geb. 1. 9. 1930 in Agen (Frankreich)
Das Werk des Wissenschaftsphilosophen S. vereinbart auf unnachahmliche Weise theoretische Strenge und poetisches Spiel. Seine wissenschaftshistorischen Arbeiten widmen sich zunächst der Genese der mathematisierten Naturwissenschaften. Sie erweitern dann aber mit philosophischer Entschiedenheit den Blick. Auch die exakten Wissenschaften sind nicht mehr als ein Teil einer – zwar präzise zu beschreibenden, in der Beschreibung aber unausschöpflichen – Logik des Kulturellen. Das Kulturelle umfaßt eine Fülle von Ordnungsmustern, von Wissens- und Sinn-Strukturen. Die Kultur ist ein immenser semiotischerˆ Raum. Dieses Credo ist das tragende Motiv auch von S.’ späteren Arbeiten. Und das Ziel, das sie verfolgen, nun zunehmend nicht mehr nur mit den Mitteln der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, sondern in freier philosophisch-literarischer Reflexion, ist es, den gewissermaßen wildenˆ Logiken im Inneren des kulturellen Sinns auf die Spur zu kommen. Denn für S. sind auch die Kunst, die technischen Artefakte, die Zeugnisse des Rechts und der Religion noch struktural geordnet. Sie müssen auf ganz eigene Weise exaktˆ beschrieben werden – und sei es im Medium einer gleichsam mathematischen Poesie.
S. studierte Mathematik und promovierte im Fach Philosophie an der Universität Clermont-Ferrand. Er gilt als Vertreter des mathematischen Strukturalismus. Mit seinen Arbeiten in der Wissenschaftsgeschichte orientiert er sich zunächst auch an den Epistemologen Gaston Bachelard und Georges Dumézil. S. lehrte an der Sorbonne sowie in Stanford (Californien). Seit 1991 ist er Mitglied der Academie Française und beschäftigt sich in den letzten Jahren unter anderem mit mehreren großen Editionsprojekten zur Geschichte des Wissens. Was außerdem erwähnt werden muß: S. fuhr mehrere Jahre zur See. Seine Philosophie reflektiert darauf durchgehend in ihrer Wortwahl und in ihrem philosophischen Programm. Denn S. wählt den Weg durch unsichere Räume, die Reise, die Passage zwischen Kontinenten und die Situation auf hoher See zu einem Bild für seine eigene Methode.
Nach einer zweibändigen Arbeit über Leibniz, Le système de Leibniz et ses modèles mathématiques (1968), publizierte S. in den Jahren 1968 bis 1980 die fünfbändige Textsammlung Hermès – zeitweilig als sein Hauptwerk betrachtet. Die fünf Bände wurden mit großer Verspätung ab 1991 ins Deutsche übersetzt. In Hermès entwirft S. sein philosophisches Programm: ein Denken in Relationen, ein präzises »Netz« von Verbindungswegen, in denen der Gegenstand perspektivisch als »Gipfel« oder »Knoten« erscheint, stets relativ zu den Wegen, auf denen man ihn ansteuert. Auch kulturhistorische Beschreibungen sind Modelle – und Modelle »symbolisieren keinen Inhalt, sie realisierenˆ eine Struktur«, bringt S. dies auf eine bekannt gewordene Formel. »Es ist möglich, eine kulturelle Entität zu konstruieren, indem man eine Form mit Bedeutung füllt. Die Bedeutung ist hier nichts Vorgegebenes mehr, dessen dunkle Sprache es zu verstehen gilt; sie ist vielmehr das, was man zu der Struktur hinzugibt, damit ein Modell entsteht.« Und wie sehen solche strukturalistischen Modelle von Kulturphänomenen aus? In Hermès werden von der Wachstafel Descartes’ bis zum genetischen Code, von der Arche Noah bis zum Schwarzen Loch, vom Motiv der Schnur bei Pascal bis zu den von Garrard und Turner gemalten Schiffen gleichsam assoziative, dennoch aber sprechende Korrespondenzen entfaltet: Man sieht Ordnungsmuster, die philosophische und wissenschaftliche mit sozialen und alltäglichen Diskursen verbinden. Die Thermodynamik korrespondiert mit der Erkenntnistheorie, der Technik, der Militärlogik ihrer Zeit; die Informationstheorie mit der Religion, mit der Liebe, mit der Wetterkunde, mit der Mathematik des Fraktals und so fort – bis zur politischen Kritik an der »Thanatokratie« der Jetztzeit. Eines der Motive von S. ist die Macht der Wissenschaft: »Das Universelle als Wissen hat das Universelle als Macht hervorgebracht, als Zerstörung«. Der Philosoph kann »nach Los Alamos«, wie S. sagt, nur noch mit großer Vorsicht vom Wissen sprechen.
In zahlreichen weiteren Schriften der 1980er und 1990er Jahre verschiebt S. seine Themenschwerpunkte und auch – mit sanfter Hand – seine Verfahren. Schon mit Le parasite (1980; Der Parasit) werden die Beschreibungen poetischer. Das Buch umkreist die Figur des Dritten – unter anderem mittels einem der Leitmetaphorik der Informationstheorie entnommenen Sprachbild: Der Dritte ist das »Rauschen«. Er ist der Störer, die Ablenkung, aber auch die produktive Intervention. Er macht aus der statischen Dyade eine dynamische Konstellation.
Mehrere von S.’ Schriften widmen sich der Literatur von Jules Verne bis Balzac und auch der Kunst, so Esthétiques sur Carpaccio (1981; Carpaccio. Ästhetische Zugänge), wo er eine Art von strukturalistischem Bildbetrachtungs-Verfahren entfaltet – so führt die Lanze des gemalten St. Georg zum Motiv des Pfeils, des Vektors, einer bestimmten Negationsform, einer Logik der Instabilität usf. Das Verfahren der Bildmeditation wählt auch La Légende des Anges (1993; Die Legende der Engel), ein Buch über das Schöpferische in der Kommunikation.
Um etwas ganz anderes, nämlich um das juridische Problem einer normativen Grenze für den Raubbau an der Natur geht es in Le contrat naturel (1990; Der Naturvertrag). In diesem Buch macht S. den rechtspolitischen Vorschlag, zugunsten der durch Wissenschaft und Technik gefährdeten Natur einen zweiten, zusätzlichen Gesellschaftsvertrag zu schließen. Es gelte die Natur zu schützen, ohne sie zu diesem Zweck metaphysisch zu überhöhen.
Als ein neuer großer Wurf erscheint 1985 Les cinq sens (Die fünf Sinne) – gekennzeichnet als der erste Band einer »philosophie des corps mêlés«, also der Gemische oder der gemischten Körper. Hier entfaltet S. das phänomenologische Thema des Leibes und der Sinneswahrnehmung. Der Körper ist gar nichts klar Umgrenztes. Schon die Haut ist ein Gemisch, wie tätowiert von Erregbarkeit: »Jede einzelne Stelle, und sei sie noch so banal, ist durch eine spezifische Mischung aus Körper und Seele gekennzeichnet« – und findet auch hier wieder eine eigene Sprache für einerseits eine allgemeine Theorie der Sinneswahrnehmung, andererseits spezifische Strukturen, etwa den Geschmack eines alten Weines, Duft, Gewürze. Und die Liebe.
Röttgers, Kurt: Michel Serres. Strukturen mit Götterboten. In: Jurt, Joseph (Hg.): Von Michel Serres bis Julia Kristeva. Freiburg i.Br. 1999, S. 87–111. – Jochum, Richard: Komplexitätsbewältigungsstrategien in der neueren Philosophie. Michel Serres. Frankfurt am Main 1998. – Gehring, Petra: Paradigma einer Methode. Der Begriff des Diagramms im Strukturdenken von M. Foucault und M. Serres. In: Dies./Keutner, Thomas u. a. (Hg.): Diagrammatik und Philosophie. Amsterdam 1992, S. 89–105.
Petra Gehring
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