Metzler Philosophen-Lexikon: Seuse (Suso), Heinrich
Geb. 21. 3. 1295 (?) in Konstanz;
gest. 25. 1. 1366 in Ulm
Ein Holzschnitt aus dem späten Mittelalter stellt S. kniend vor der Erscheinung der »Ewigen Weisheit« dar; sie ist für ihn Personifikation der biblischen Weisheitslehren, die er mit dem menschgewordenen und gekreuzigten Sohn Gottes identifiziert. Zur mystischen Vereinigung mit ihr sucht er den Weg härtester Selbstkasteiung (er hat sich das Jesus-Monogramm mit dem eisernen Griffel auf die Brust geritzt), des Leidens (Rosen sind für S. Bild leidender Liebe) und der völligen Selbstentäußerung, der »Gelassenheit« (darauf weist das von einem Hund umhergezerrte Fußtuch hin).
Mit 13 Jahren wurde der Patriziersohn, der am Beispiel seiner Eltern den Gegensatz von weltlicher und geistlicher Gesinnung erfuhr, ins Konstanzer Dominikanerkloster aufgenommen und etwa 1323 zum Generalstudium nach Köln geschickt, wo Meister Eckhart den nachhaltigsten Einfluß auf ihn ausübte. Nach seiner Rückkehr übernahm er als Lektor die Leitung der Studien seines Klosters. Um 1330 entstand zunächst das Büchlein der Wahrheit: Ausgehend von der Frage nach der rechten Gelassenheit, der Voraussetzung für die Erkenntnis von Gottes Wesen und Wirken, greift S. darin mutig die Lehre seines von päpstlicher Seite verurteilten Meisters auf und sichert sie ab durch Einordnung in die kirchliche Tradition, setzt aber durchaus eigene Akzente, vor allem in der Christologie und bei der Frage des rechten Gebrauchs der Vernunft. In diesem philosophischen Traktat wehrt er sich zugleich gegen die Mißdeutung von Eckharts Gedanken durch den Libertinismus der »Brüder und Schwestern des freien Geistes«. Etwa 1332 folgte das Büchlein der Ewigen Weisheit; es will durch die Betrachtung der Passion Christi zur Erkenntnis Gottes und zum richtigen Leben und Sterben hinführen. Das lateinisch geschriebene Horologium Sapientiae, eine erweiterte Fassung des Weisheitsbüchleins, fand von S.s Werken die weiteste Verbreitung und hatte starke Nachwirkung in der mystischen Literatur. S.s Vorbilder sind Meister Eckhart, Bernhard von Clairvaux und Dionysius Areopagita; häufig greift er auf Thomas von Aquin, Augustinus und Boëthius zurück. Was ihn vor den anderen Mystikern auszeichnet, ist seine Fähigkeit, in ergreifender Sprache, durch eine bis dahin unerreichte Innigkeit des Empfindens, durch Kraft der Phantasie und Fülle der Bilder mystische Erkenntnis und Erfahrung nahezubringen.
Seine erste Schrift brachte S. eine Rüge von seiten der Ordensoberen und den Verlust des Lektorats; doch sah er mehr und mehr seine Aufgabe im praktischen Apostolat. In dieser unruhigen Zeit des Umbruchs, des aufstrebenden Bürgertums und der ersten Zunftaufstände, der Verweltlichung der Kirche und des Interdikts, in dessen Folge auch der Konstanzer Konvent von 1339 bis 1346 in die Verbannung gehen mußte, verkündete er unbeirrt seine Mahnung zu innerer Einkehr und wirkte auf vielen Reisen als geschätzter Prediger und Seelsorger unter den Laien und in Frauenklöstern seines Ordens; als Zeugnis dieser Tätigkeit sind zahlreiche Briefe erhalten.
Ein Spätwerk S.s ist seine Selbstbiographie, ein Höhepunkt der Gattung und wie Augustinus’ Bekenntnisse ein Experiment mit dem eigenen Ich vor den Augen Gottes: nicht historische Darstellung biographischer Fakten, sondern Stilisierung seiner Person als Beispiel eines »anfangenden, zunehmenden und vollendeten Menschen«, der eine Berufungsvision erfährt, sich in strengster Askese läutert und als geistlicher Ritter in Demut tiefste Erniedrigung erträgt, um schließlich den inneren Frieden in Christus zu finden. Die anschließenden Kapitel über S.s geistliche Tochter, die Dominikanerin Elsbeth Stagel (deren Mitwirkung an der Vita von S. bezeugt, aber schwer faßbar ist), münden in Darlegungen seiner mystischen Lehre. Seine wichtigsten deutschen Schriften hat S., der aufgrund einer bald als haltlos erwiesenen Verleumdung seine Heimatstadt verlassen mußte und die letzten Lebensjahre in Ulm verbrachte, im sogenannten Exemplar zusammengestellt.
Haas, Alois M.: Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik. Bern 21996. – Blumrich, Rüdiger/Kaiser, Philipp (Hg.): Heinrich Seuses Philosophia spiritualis: Quellen, Konzept, Formen und Rezeption. Wiesbaden 1994. – Holenstein, Anne-Marie: Studien zur Vita Heinrich Seuses. In: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte. Freiburg/Schweiz 1968.
Hermann Knittel
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