Metzler Philosophen-Lexikon: Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of
Geb. 26. 2. 1671 in Wimborne St. Giles;
gest. 15. 2. 1713 in Chiaia/Neapel
»Und dennoch«, erwiderte er, »ist, was wir alle im allgemeinen tun, etwas anderes als Philosophieren? Wenn die Philosophie, wie wir sie auffassen, das Studium der Glückseligkeit ist, muß dann nicht jeder, auf die eine oder die andere Art, geschickt oder ungeschickt, philosophieren? Muß nicht jede Überlegung, die unser wichtigstes Interesse betrifft, jede Verbesserung unsres Geschmacks, alles Wählen und Bevorzugen im Leben unter diese Rubrik fallen?« Philosophisches Gespräch, nicht gelehrte Abhandlung, ironischer Seitenblick auf die Fachphilosophen: S.s Optimismus wirkte nicht unbedingt schulemachend, aber ansteckend: 1774 verwendet der junge Goethe für einen Stammbucheintrag den bereits programmatisch gewordenen Satz S.s: »The most ingenious way of becoming foolish is by a system« – und bestätigt damit die Wirkung, die der Autor noch auf das späte 18. Jahrhundert ausgeübt hat. Man wird die Stelle aus der eingangs zitierten Schrift The Moralists (1709; Die Moralisten) allerdings mit anderen Dialogen vergleichen müssen, um S.s »rhapsodische Philosophie« und die Vielschichtigkeit der Rezeption verstehen zu können. Nachgeahmt wurde sehr bald die unakademische Form seiner Schriften, der platonische Dialog und der Brief (so A letter concerning Enthousiasm, 1707; Ein Brief über den Enthusiasmus), worin S. die Übereinstimmung der ethischen und ästhetischen Vermögen des Menschen und die sie bedingende Harmonie eines kosmischen Ganzen beschreibt, dessen verborgene Zusammenhänge der geniale Künstler aufdeckt. Da diese Motive in den irrationalistischen und gegenaufklärerischen Strömungen des 18. Jahrhunderts – vor allem in Deutschland – wiederkehren, hat die geistesgeschichtliche Forschung – um weitere Goethe-Zitate nicht verlegen – S. aus dieser Perspektive als einen Vorläufer oder wichtigen »Anreger« begriffen und dabei das aufklärerische Grundmotiv seines Denkens übersehen, auf dessen Spur eine beiläufige Bemerkung Lessings in den Litteraturbriefen (1759) führt: »Shaftesbury ist der gefährlichste Feind der Religion, weil er der feinste ist. Und wenn er sonst auch noch so viel Gutes hätte; Jupiter verschmähte die Rose in dem Munde der Schlange.« Womit Lessing auf den ersten von S. verfaßten Essay An Inquiry concerning Virtue and Merit (1699; Untersuchung über die Tugend) angespielt haben dürfte.
Die für seinen Stand durchaus ungewöhnliche Karriere als philosophischer Schriftsteller verdankte S. neben seiner Begabung einem pädagogischen Experiment seines Großvaters, einem Verehrer und Förderer des Philosophen John Locke, welcher später maßgeblichen Einfluß auf die Entwicklung S.s haben sollte. Noch vor jedem schulischen Unterricht wurden ihm bereits als Kind von einer Erzieherin die klassischen Sprachen im »alltäglichen« Gebrauch vermittelt. Sie bildeten die Grundlage seiner ausgedehnten Lektüre der antiken und humanistischen Autoren. Als 16jähriger begibt er sich auf die für seine Zeit typische Bildungsreise durch Europa, wobei ihn besonders der giroˆ, die Kunst und Kultur Italiens, beeindrukken. 1689 kehrt er nach England zurück, wo ihm ein Parlamentssitz angeboten wird, den er jedoch ablehnt, um seine privaten Studien fortsetzen zu können. Dem Unterhaus tritt er erst 1695 bei, vier Jahre später übernimmt er nach dem Tod seines Vaters die gesamten Repräsentationspflichten des Hauses, was seine angegriffene Gesundheit – er ist lungenkrank – weiter schwächt. 1698 lebt S. in Holland, wo er Pierre Bayle kennenlernt und jene Inquiry konzipiert, die in einer ersten, von ihm nicht autorisierten Fassung 1699 von John Toland veröffentlicht wird. S. stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Moral und beantwortet sie, anders als Bayle, indem er bei der Begründung der Ethik auf jede theologische Grundlegung verzichtet: Auch Atheisten können tugendhaft handeln und dabei auf einen Maßstab für ihr Handeln verweisen – womit die Anspielung Lessings verständlich wird. In den nachfolgenden Schriften, die er 1711 unter dem Titel Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times in drei Bänden zusammenfaßt, umkreist S. immer wieder jenes fundierende Prinzip unseres Handelns, das er als »moral sense« bezeichnet und in Analogie zur ästhetischen Erfahrung – die Neigungen für bestimmte Handlungen und unser Gefallen an schönen Dingen haben für ihn denselben Ursprung – intuitiv umschreibt; dieser »sense of moral worth and goodness« darf jedoch nicht als rein passive, einem Instinkt gehorchende Naturanlage aufgefaßt werden, die eine sittliche, Reflexion voraussetzende Bewertung des Handelns gerade ausschließen würde. Der »moral sense« ist vielmehr dasjenige Vorstellungsvermögen, das unsere natürliche Wahrnehmung von guten, auf das Allgemeinwohl gerichteten Handlungen als solche objektiviert. Daß der Mensch überhaupt fähig und gefordert ist, sich auf einen größeren Zusammenhang hin zu orientieren, findet bei S. eine metaphysische Begründung.
Die naturgegebenen Neigungen des Menschen, seine »self affections«, sind nicht auf eine egoistische Selbstbehauptung gerichtet, sondern haben ihre letzte Bestimmung in der Erhaltung eines kosmischen Ganzen, dessen Teil sie sind und das sie selbst wiederum repräsentieren. Indem wir die harmonische Schönheit und Ordnung der Natur anschauen, erkennen wir das Ziel des Individuums, sich als »self-system« in Übereinstimmung mit der Ordnung des »universal system« in seinem gesellschaftlichen Leben selbst zu vervollkommnen. Diese positive Anthropologie und ihr Gedanke der Perfektibilität des Menschen wurde von der deutschen Aufklärung begeistert aufgenommen, sie bildete ein Gegengewicht zu dem bedrohlichen Bild von der Triebnatur des Menschen, wie es die Machtstaatstheoretiker des Absolutismus (Machiavelli, Hobbes) entworfen hatten. Der Übergang vom »Teil« zum »Ganzen« beruht dabei aber nicht auf einer logischen Ableitung, sondern auf intuitivem Wissen. Die zweckvoll-göttliche Ordnung des Kosmos soll sich in den natürlichen Anlagen des Menschen zeigen, auf die sich vernunftgemäß reflektieren läßt; sie läßt sich auch hymnisch preisen – wobei S. jedoch jedem religiösen Enthusiasmus kritisch gegenübersteht – und in den Werken genialer Künstler als ästhetisches Organisationsprinzip erahnen. Philosophie und Kunstbetrachtung verbinden sich so zum »Studium der Glückseligkeit«.
Baum, Angelica: Selbstgefühl und reflektierte Neigung. Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001. – Klein, Lawrence E.: Shaftesbury and the Culture of Politeness. Moral Discourse and Cultural Politics in Early Eighteenth-Century England. Cambridge u. a. 21996. – Schrader, Wolfgang H.: Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moral-sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume. Hamburg 1984. – Voitle, Robert: The Third Earl of Shaftesbury, 1671–1713. Baton Rouge/London 1984.
Friedrich Vollhardt
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