Metzler Philosophen-Lexikon: Singer, Peter Albert David
Geb. 6. 7. 1946 in Melbourne
Daß ein und derselbe Denker die Euthanasie befürwortet und sich gleichzeitig leidenschaftlich für die Rechte von Tieren engagiert, sich also einmal scheinbar reaktionär oder gar faschistisch äußert, das andere Mal dagegen progressiv und sensibel, bringt die üblichen Koordinaten bei der Einschätzung philosophisch-politischer Positionen schon gehörig ins Wanken. Vollends irritiert reagiert der Betrachter, wenn er erfährt, daß der Vertreter dieser Positionen ein australischer Jude ist, dessen aus Wien stammende Großeltern in deutschen Vernichtungslagern ermordet wurden und dessen Eltern nach Australien emigrieren mußten. Die Rede ist von einem der profiliertesten Vertreter der utilitaristischen Ethik in der Gegenwartsphilosophie.
Einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland wurde S. erstmals mit seinem Buch Practical Ethics (1979) bekannt, das 1984 auf Deutsch erschien (Praktische Ethik). Zum Erschrecken vieler waren darin Sätze zu lesen wie: »Die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht.« Diese Befürwortung der Euthanasie löste nach wiederholter Veröffentlichung der anstößigen Zitate eine Welle öffentlicher Empörung aus, zunächst in Tages- und Wochenzeitungen, dann auch in Form massiver Proteste gegen Vorträge und Auftritte S.s bis hin zur handgreiflichen Verhinderungen dieser Veranstaltungen. So verständlich diese Reaktionen in dem Land waren, in dem vierzig Jahre zuvor Nazis im Namen der Euthanasie grauenvolle Verbrechen an Behinderten oder sonstwie als lebensunwertˆ diskriminierten Menschen begangen hatten, so wenig wurden sie doch der Position S.s gerecht, der sich einer regelrechten Hetzjagd ausgesetzt sah. Die polemische Auseinandersetzung auf der Basis einiger weniger aus dem Zusammenhang gerissener Zitate ist zwar bei tagespolitischen Kontroversen allzu üblich, sie kann aber den Anspruch ernsthafter philosophischer Auseinandersetzung, den eine so klug und weitgehend ressentimentfrei begründete Position wie die S.s verdient, nicht erfüllen.
S. studiert zunächst in seiner Heimat an der University of Melbourne, wo er 1967 mit dem B.A. und 1969 mit dem M.A. abschließt. In der Folge setzt er seine akademische Ausbildung in England fort. In Oxford ist Richard M. Hare der Lehrer mit dem größten Einfluß auf das Denken S. s. Im Anschluß an seine 1971 erfolgte Promotion zum B. Phil. bleibt S. noch für zwei weitere Jahre als Lektor in Oxford. Internationales Aufsehen erregt er dann erstmals 1975 mit Animal Liberation: A New Ethics for our Treatment of Animals (Befreiung der Tiere. Eine neue Ethik zur Behandlung der Tiere, 1982), einem mittlerweile in mehr als einem Dutzend Sprachen vorliegenden Buch, in dem er begründet, warum der menschliche Umgang mit Tieren in vielerlei Hinsicht unmoralisch ist. Den Status dieses Werks kann man daran ermessen, daß es des öfteren als Bibelˆ der Tierrechtsbewegung apostrophiert wird. In diesen Jahren ist S. Assistenzprofessor in New York und Senior Lecturer an der La Trobe University in Australien. 1977 folgt dann die Berufung zum Professor an die Monash University in Melbourne, wo er 1980 zum Gründungsrektor des dortigen »Center for Human Bioethics« ernannt wird.
Nach dem schon genannten Practical Ethics von 1979 erscheinen eine Reihe – mittlerweile mehr als zwei Dutzend – weiterer Bücher: The Reproduction Revolution: New Ways of Making Babies (1984, zusammen mit Deane Wells), Should the Baby live? The Problem of Handicapped Infants (1985, mit Helga Kuhse; Muß dieses Kind am Leben bleiben? Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener, 1993) und Rethinking Life and Death: The Collapse of Our Traditional Ethic (1994; Leben und Tod. Der Zusammenbruch der traditionellen Ethik, 1998). Dazu kommt eine fast unübersehbare Zahl von Artikeln, Rezensionen und anderen Beiträgen. Zudem ist S. der Autor des Hauptartikels über »Ethik« in der gegenwärtigen Auflage der Encyclopedia Britannica. In den seiner Berufung nach Melbourne folgenden zwei Jahrzehnten manifestiert sich die breite Wirkung der Philosophie S.s in einer Reihe von Gastprofessuren vor allem in den USA, England und Italien. S. ist Mitherausgeber der Zeitschrift Bioethics seit 1985 und wurde 1992 zum Gründungspräsidenten der »International Association of Bioethics« gewählt. S. avanciert in diesen Jahren zum wohl meistdiskutierten Vertreter der angewandten Ethik der Gegenwart. In der Politik engagiert S. sich als Gründungsmitglied der Grünen des australischen Bundesstaates Victoria, für die er ohne Erfolg 1996 auch als Kandidat für den australischen Senat antritt.
Von heftigen Protesten begleitet, wird S. im Jahr 1999 zum Ira W. DeCamp Professor für Bioethik am University Center for Human Values an der Princeton University berufen. Die Kritiker sehen in der Berufung eine Verletzung des »Commitment to the Community policy« der Universität von Princeton. Der Universitätspräsident Harold Shapiro verteidigt gegen diese Kritik die Berufung S.s unter Bezugnahme auf argumentative Redlichkeit, Toleranz und akademische Freiheit. Am 1. Juli 1999 tritt S. die Professur in Princeton an; zuvor ist er schon im Jahr 1992 DeCamp Lecturer in Princeton gewesen. Er ist seit 1968 mit Renata Diamond verheiratet und Vater von drei Töchtern.
Die Grundlage der ethischen Argumentationen S.s, ausführlich in Praktische Ethik vorgetragen, ist die Position des Präferenzutilitarismus. Während der – vor allem in der angelsächsischen Tradition beheimatete – Utilitarismus grundsätzlich die Handlung als moralisch gut auszeichnet, die allen davon Betroffenen mehr oder zumindest gleichviel Nutzen bringt als jede alternativ mögliche Handlung, überträgt der Präferenzutilitarismus dieses Modell auf die unparteiische und maximale Befriedigung von Präferenzen, womit Wünsche und Interessen gemeint sind. Die moralische Qualität einer Handlung bemißt sich demnach daran, wie weit sie einer gerechten Interessensabwägung standhält. Moralisch gerecht ist diese Abwägung von Interessen dann, wenn dabei keinerlei Rücksicht darauf genommen wird, wer diese Interessen hat. Ich muß also, so lautet S.s Folgerung, »den Handlungsverlauf wählen, der per saldo für alle Betroffenen die besten Konsequenzen hat«. Wenn man dieses Entscheidungsmodell nun auf wichtige praktisch-ethische Fragestellungen anwendet, kommt man zu den von S. vertretenen Positionen, die häufig unseren moralischen Intuitionen stark zuwiderlaufen. Dies gilt in besonderer und provozierender Weise für die Einschätzung der Euthanasie schwerstbehinderter Säuglinge und die Frage der Berechtigung des Tötens von Tieren vor allem zum Zwecke der Nahrung.
Beide Probleme konfrontieren uns mit der Frage nach dem Wert des Lebens, einer Frage, die durch die Nazis aufs grausamste diskreditiert wurde. S. verweist aber darauf, daß wir de facto ständig diese Frage beantwortenˆ, wenn wir Entscheidungen über das Leben von Tieren und Pflanzen fällen. Ein auf Menschen eingeschränktes kategorisches Tötungsverbot kann S. deswegen nicht akzeptieren, weil damit die bloße Zugehörigkeit zu einer Spezies zum Kriterium des wertvollen Lebens gemacht wird. In Parallelisierung zum Rassismus nennt er dies »Speziesismus«, der allerdings, wie er meint, in unserer abendländischen jüdisch-christlichen Tradition tief verankert sei. S. entwickelt dagegen mit der Unterscheidung von personalem und nichtpersonalem Leben ein Wert-und Lebensbeurteilungs-Kriterium. Denn nur Personen können Wünsche hinsichtlich der eigenen Zukunft haben, und ihr Leben ist deswegen, präferenzutilitaristisch gesehen, schützenswerter als das von »Nichtpersonen«. Da aber das Person-Sein nicht daran gebunden ist, Mensch zu sein, gibt es auch Tiere wie beispielsweise Schimpansen, die Personen sind, und auch Menschen wie Neugeborene, die keine Personen sind. Vor diesem Hintergrund führt S. unter Einbeziehung weiterer Erwägungen über das zu erwartende Leben aus, daß die Tötung unheilbar schwerstbehinderter Säuglinge durch einen Arzt aktiv erlaubt sei, anstatt den Tod des Säuglings bloß, wie üblich, durch Unterlassung lebensverlängernder Maßnahmen herbeizuführen. Und umgekehrt ist in dieser Sicht das Töten personaler Tiere gar nicht und das Töten nicht personaler Tiere nur in ganz wenigen Fällen moralisch zu rechtfertigen – im Gegensatz zur tagtäglichen Realität des hochmechanisierten Massenschlachtens.
Die provozierende Position S.s hat ein weites kritisches Spektrum ganz unterschiedlicher Argumente und Grundhaltungen mobilisiert. Es scheint, als würde der mit einem problematischen Personenverständnis operierende Präferenzutilitarismus S.s in seinem Versuch, Fragen wie das Tötungsverbot vorurteilslosˆ zu beurteilen, letztlich scheitern. So unbefriedigend die herrschende medizinische Praxis und ihre häufig bemerkte Doppelmoral sein mag, der Versuch, die damit verbundenen Entscheidungsprobleme nach allgemeinen Regeln quasi rechnerischˆ auflösen zu wollen, verkörpert doch eine Ethik der Machbarkeit, die sich selbst kaum mehr kritisch zu hinterfragen weiß.
S. ist ohne Zweifel einer der bedeutendsten gegenwärtigen Vertreter der angewandten Ethik, insbesondere der Bioethik, welche die mit den Fortschritten der Medizin und Biologie zugespitzten ethischen Probleme diskutiert. Eine Auseinandersetzung mit seinen Thesen kann nur klärend und hilfreich sein. Daß er auf derselben moralphilosophischen Basis zugleich ein radikaler und konsequenter Grüner ist, der das Lebensrecht von Tieren und die Erhaltung unserer Umwelt für zwingend geboten hält, ist und bleibt eine Herausforderung für jede Stellungnahme zu seinem Denken.
Anstötz, Christoph/Hegselmann, Rainer/Kliemt, Hartmut (Hg.): Peter Singer in Deutschland. Zur Diskussionsfreiheit in der Wissenschaft. Frankfurt am Main/Berlin u.a. 1995. – Ausführliche Informationen zu Werk und Rezeption Peter Singers unter:
Peter Christian Lang
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