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Metzler Philosophen-Lexikon: Sokrates

Geb. um 469 v. Chr. in Athen;

gest. 399 v. Chr. in Athen

»S. vor Augen zu haben, ist eine der unerläßlichen Voraussetzungen unseres Philosophierens.« So urteilte nicht nur Karl Jaspers. S. wird so oft als Kronzeuge für die jeweils vertretene Philosophie angeführt, daß man sich fragen muß, was denn an einer Philosophie ist, wenn sie zur Basis für die unterschiedlichsten philosophischen Richtungen reklamiert wird. Karl Popper sah in S. das Musterbeispiel eines kritischen Rationalisten und Bertolt Brecht einen prämarxistischen Denker. Was ist es also, das diese Philosophie für so gegensätzliche Geister so attraktiv macht? Kant und Nietzsche können uns bei der Beantwortung der Frage weiterhelfen. Für Nietzsche ist S. das »Wappenschild

über dem Eingangstor der Wissenschaft.« Und Kant sagt: »Die Grenzen seiner Erkenntnis, den Umfang derselben einzusehen und dadurch erkennen, daß ich nichts weiß; das ist sehr tiefe Philosophie.« S.’ bekanntester Ausspruch lautet in der Tat: »Ich weiß, daß ich nichts weiß.« Wie passen diese gegensätzlichen Aussagen zusammen, die ihn auf der einen Seite als Präzeptor der Wissenschaft und auf der anderen als Prophet des Nichtwissens darstellen?

Von S.’ Leben wissen wir sehr wenig. Er wurde als Sohn des Bildhauers Sophronikos und der Hebamme Phaunarete um 470 in Athen geboren. Außer zu den Feldzügen von Potidaia, Delion und Amphipolis hat er seine Heimatstadt nie verlassen. Dort anerkannten ihn seine Zeitgenossen als tapferen Mann. In seiner Heimatstadt wurde er Ratsherr und bekannt als Hüter der Gesetze: Als das Volk neun Feldherren widerrechtlich zum Tode verurteilen wollte, verwies er auf die Gesetze und setzte sich für deren Einhaltung gegen den Zorn des Volkes ein. Er konnte sich nicht durchsetzen. Ansonsten widmete sich dieser einfache und asketische Mann der Philosophie. Seine Einfachheit wird bezeugt durch seinen Ausspruch, den Diogenes Laërtios überlieferte: »Wie zahlreich sind doch die Dinge, deren ich nicht bedarf.« S. war mit Xanthippe verheiratet und hatte drei Söhne. Allerdings vernachläßigte er seine Familie ebenso wie den vom Vater erlernten Bildhauerberuf. Lieber philosophierte er mit den Jünglingen angesehener Familien Athens auf den Plätzen und Straßen seiner Heimatstadt.

Von S. gibt es keine Schriften. Vielmehr müssen wir uns mit ganz gegensätzlichen Überlieferungen seiner Philosophie durch Aristophanes, Xenophon, Platon und Aristoteles begnügen. Meist bezieht man sich auf die Platonischen Dialoge, in denen Platon S. zu Wort kommen läßt. Man ist dabei nicht zu einer einheitlichen Auffassung darüber gelangt, was tatsächlich von S. stammt und was von Platon hinzugefügt wurde. Es gibt in dieser Hinsicht radikal entgegengesetzte Auffassungen. Die eine: alles komme von Platon her, und S. als Philosoph sei nur eine erfundene Figur; die andere: alles, was Platon dem S. in den Mund lege, sei getreue Wiedergabe. Sicher ist nur, daß die Ideenlehre nicht von S. stammt, sondern von Platon. Diese Einsicht wird uns von Aristoteles überliefert, dessen Philosophie eine Auseinandersetzung mit Platons Ideenlehre war. Da Aristoteles von 367 bis 347 v. Chr. zwanzig Jahre lang Schüler Platons war, ist nicht anzunehmen, daß uns Aristoteles in der für ihn selbst so bedeutsamen Frage etwas Falsches überliefert hat. Aristoteles könnte aber die Platonschule und nicht Platon als Urheber der Ideenlehre gemeint haben. Sicher ist, daß von S. die Untersuchungsmethode stammt, die wir darum die sokratische Methodeˆ nennen. Mit ihr untersuchte er das Wissen. Mit der Antwort auf die Frage, welches Wissen wie untersucht wird, kommen wir auf die Aussage Nietzsches zurück und nähern uns der Beantwortung der Ausgangsfrage an. S. untersucht theoretisches und praktisches Wissen gleichermaßen. Beides ist in dem griechischen Wort »epistḗmē« miteinander verbunden. Zunächst zum theoretischen Wissen und zur sokratischen Methode. Rückblickend zeigte Platon uns im Dialog Phaidon, der den Sterbetag des S. schildert, die Entstehung dieser Methode. S. sagt dort, daß er bei allem, was entsteht und vergeht, also bei allem Physischen, nach der bleibenden Ursache, nach dem Grund oder dem Wesen suche.

Das zeichnet metaphysisches wissenschaftliches Suchen aus. Philosophen suchen nach einem einheitlichen Grund von allem, was ist. Als S. aus einem Buch des Anaxagoras habe vorlesen hören, schien ihm die Vernunft der Grund von allem zu sein, was ist. Als er dann das Buch des Anaxagoras einmal selbst gelesen habe, war er enttäuscht. Niemand konnte S. den Grund von allem, was ist, nennen. Bei einem Lehrer, der ihm das hätte sagen können, wäre er gern in die Schule gegangen. Weil er einen solchen Lehrer nicht fand, mußte er sich selbst auf die Suche machen und entwickelte jene dialektische Methode, die die Bewegung zwischen dem Einzelnen und dem Wesen vermitteln soll. Das bedeutet Dialektik bei S., die Bewegung zwischen Wesen und Einzelerscheinung, bei welcher man von dem einzelnen Ding ausgeht, um dadurch zum Wesen zu gelangen, zum Wesen des konkreten Einzelnen. S. meinte, wenn man einmal das Wesen einer Sache erfasse, dann verstünde man auch das konkrete Einzelne besser. Man brauche aber das Einzelne, das sich in der Wahrnehmung zeige, damit man das Wesen überhaupt finden könne. Dies ist im sokratischen Gespräch die Aufforderung: »Fasse Fuß im Konkreten!«

Zu einer schönen Rose beispielsweise gehöre wesentlich, daß sie schön sei, sagte S. Es gebe aber viele schöne Dinge. Also müsse es auch das Schöne an sich selbst geben. Dies lasse sich allerdings nicht durch die Sinne erfassen, obwohl man vom sinnlich Wahrnehmbaren ausgehe. Es sei aber evident, daß es das Schöne an sich gebe. Ein Einzelding sei demnach aus keinem anderen Grunde schön als aus dem, daß es Anteil am Schönen selbst, also Anteil am Wesen habe. S. sagt im Phaidon zu Kebes: »Prüfe also, ob dir auch das Folgende ebenso einleuchtet wie mir. Mir nämlich scheint ganz klar, wenn irgendetwas anderes schön ist außer dem Schönen an ihm selbst, es aus keinem einzigen anderen Grunde schön ist, als weil es an jenem an ihm selbst seienden Schönen Anteil hat.« Es komme ihm, S., darauf an, »daß es das Schöne an ihm selbst ist, durch das alle schönen Dinge schön sind. Das scheint mir nämlich die allersicherste Antwort zu sein, die ich mir selber oder wem sonst geben kann, und wenn ich die festhalte, darin meine ich, werde ich nie zu Fall kommen, sondern es scheint mir für mich selbst wie für jeden anderen die einzig sichere Antwort, daß durch das Schöne die schönen Dinge schön sind. Und ebenso, daß durch die Größe das Große groß und das Größere größer ist und durch die Kleinheit das Kleinere kleiner.«

Nun richtete S. seinen Blick auf ein anderes Phänomen: Es könne sein, daß wir nur meinen, wir hätten etwas Wesentliches erfaßt. In Wirklichkeit verwendeten wir aber gedankenlos einen alltäglichen Begriff für das Wesentliche. Was passiert dann? Mit der Antwort auf diese Frage kommen wir auf die am Anfang genannte Aussage von Kant zurück und damit wiederum der Beantwortung unserer Ausgangsfrage ein Stück näher. S. ist auf die Menschen zugegangen und hat ihnen bewußt gemacht, daß sie völlig unreflektiert einen Begriff verwenden und meinen, daß sie damit das Wesen einer Sache benennen. Leonard Nelson rechnet es S. als hohes Verdienst an, indem er sagt: »Ein ihm allgemein zugestandener Erfolg besteht zunächst darin, daß er durch seine Fragen die Schüler zum Eingeständnis ihrer Unwissenheit bringt und damit dem Dogmatismus bei ihnen die Wurzel durchschneidet.« Beispielhaft für diesen Vorgang ist der Dialog Laches, den Gottfried Martin für die beste Darstellung eines sokratischen Gesprächs hält. S. wollte darin über die Tugend der Tapferkeit reflektieren. Auf diesem Gebiet war er selbst kein Fachmann. Er tat folglich das, was er in solchen Fällen zu tun pflegte: Er holte sich zwei Spezialisten, nämlich zwei Feldherren, deren alltägliches Geschäft es war, tapfer zu sein. Diese behaupteten zu wissen, was tapfer sei. Durch bohrendes Fragen stellte sich heraus, daß sie zwar den Begriff der Tapferkeit kannten, unzweifelhaft auch über die Tugend der Tapferkeit verfügten, was sie oft genug unter Beweis gestellt hatten, aber nicht zu sagen wußten, was Tapferkeit sei. Diese Einsicht zwang sie beide zu genauerem Nachdenken über diese Frage. Es ging darum, »die Begriffe reflektiert genau zu bestimmen und sie von anderen, ähnlichen zu unterscheiden« (Hans-Georg Gadamer). Bis zum Gespräch mit S. hatten die beiden Feldherrn den Begriff gänzlich unreflektiert gebraucht. Nun haben wir eine Antwort auf unsere Ausgangsfrage: S. wollte den Menschen zeigen, daß sie bisher ein unzulängliches Wissen hatten, das als Nichtwissen zu bezeichnen war. Durch diese Einsicht führte er sie zu gesichertem Wissen. Das ist auch heute noch ein Kennzeichen wissenschaftlichen Forschens.

Die heutigen Wissenschaftler sind bestrebt, alle Arten von Irrtümern zu eliminieren. Sie versuchen systematisch, Fehler bei der Wissenssuche zu beseitigen. Dabei kann es im sokratischen Gespräch auch zum Zustand völliger Ratlosigkeit kommen, zum Zustand der Verwirrung – wie Leonard Nelson sagte. Man wird dann beklagen, daß man vorher über eine Sache Klarheit zu haben glaubte, jetzt aber gar nichts mehr weiß. Das vorher Gewußte stellt sich als »Windei« heraus, wie S. gesagt hätte. Das anfängliche Wissen stellt sich als ein nur vermeintliches heraus. Wenn ein solcher Zustand erreicht wird, ist das ein Kennzeichen dafür, daß es sich um ein gutes philosophisches Gespräch handelt. All die Sicherheit, die sich auf Begriffe stützt, die nicht reflektiert und genauestens bedacht, sondern nur benutzt werden, erweist sich als Scheinsicherheit. Wenn diese als solche erkannt wird, dann ist das Denken aus seinem dogmatischen Schlummer erwacht. Jetzt beginnt das Denken und Bedenken dessen, was einem bisher selbstverständlich und vertraut war. Mit dem Staunen beginnt alles Philosophieren. Im sokratischen Dialog sind die Menschen plötzlich erstaunt über sich selbst, darüber, daß sie vieles unreflektiert hingenommen haben. Nach dem Dialog mit S. benutzen die beiden Feldherren im Laches den Begriff Tapferkeitˆ weiterhin, mit großer Wahrscheinlichkeit aber anders als in ihrer bisher gewohnten Weise. Diese entscheidende Differenz bringt das sokratische Gespräch zustande.

Das ist die Antwort auf unsere Ausgangsfrage. S. hatte die Menschen dahin gebracht zu sagen: »Ich weiß, daß ich nichts weiß.« Ihr Wissen stellt sich als Scheinwissen heraus. S.’ Dialogpartner gebärden sich als Wissende und werden als Unwissende überführt. S. will seinen Gesprächspartner aufwecken, »damit er ein wirkliches Wissen sucht, und das heißt, bereit ist, Rechenschaft zu geben« (Hans-Georg Gadamer). Was bedeutet das, sich über sein Wissen Rechenschaft zu geben? »Wer weiß, der hat eben nicht nur eine vielleicht richtige Ansicht von etwas, sondern er weiß auch das, was er weiß, zu rechtfertigen, im Gespräch mit sich oder mit anderen. Wissen ist also Wissend-Sein« (Hans-Georg Gadamer). Im Dialog Theaitetos sagt S., daß man von ihm sage, er sei ein merkwürdiger Mensch, denn er bringe die anderen durcheinander. Dies ist der Zustand, den Kant in dem eingangs zitierten Satz anspricht. Den unreflektierten Gebrauch von Begriffen nennt S. Nichtwissen. Dieses Nichtwissen selbst zu erkennen, dahin will S. die Menschen führen. Gleichzeitig will er sie dazu bringen, das Alltägliche und Selbstverständliche vertiefter zu reflektieren.

Es gibt aber noch eine zweite Art von Wissen, die neben dem theoretischen zu hinterfragen ist; Es ist das praktische Wissen. Dieses praktische Wissen ist uns in der Regel noch viel weniger präsent als das theoretische, denn Werturteile laufen in der Kommunikation mit und werden nicht eigens thematisiert. Dieses unthematisierte Gelten von Werten zeigt sich ganz augenfällig dann, wenn beispielsweise Amnesty International fordert, Mißhandlungen oder Folterungen von Menschen einzustellen. Alle stimmen dieser Forderung zu. Niemand fragt nach, ob es denn richtig sei, gegen Folter zu sein. Denn das könnte als Provokation empfunden werden, und die Kommunikation würde empfindlich gestört. Im sokratischen Gespräch hingegen soll jeder moralische Wert auf den Prüfstand genommen werden. Es sollen die Werte ermitteln und geprüft werden können, die den tagtäglichen kleinen und gewichtigeren Entscheidungen zugrunde liegen. »Regressive Abstraktion« nannte Leonard Nelson 1922 diese sokratische Methode, die zwischen Induktion und Deduktion anzusiedeln ist. Mit dieser Methode sollen Wertvorstellungen, die in uns liegen und beim alltäglichen Handeln verborgen bleiben, bewußt gemacht werden. »Die regressive Methode der Abstraktion, die zur Aufweisung der philosophischen Prinzipien dient«, sagt Nelson, »erzeugt also nicht neue Erkenntnisse, weder von Tatsachen noch von Gesetzen. Sie bringt nur durch Nachdenken auf klare Begriffe, was als ursprünglicher Besitz unserer Vernunft ruhte und dunkel in jedem Einzelurteil vernehmlich wurde.« Nelson bezeichnet diesen Weg als den Rückgang vom Besonderen zum Allgemeinen oder als den Rückgang von den einzelnen moralischen Urteilen zu ihren allgemeinen Prinzipien, die im Dunkel jedes moralischen Einzelurteils ruhen würden.

Auf moralischen Prinzipien bauen wir unsere moralischen Urteile im Einzelfall auf, ohne uns diese bei jeder Entscheidung bewußt machen zu können. Wir fällen im Alltag unendlich viele Entscheidungen, ohne daß uns die Prinzipien, die die Basis unserer Entscheidungen sind, in diesem Moment, in dem wir die Entscheidung treffen, bewußt sind. Mit derselben Methode geht S. ferner beim theoretischen Wissen vor. Im Dialog Menon stellt S. einem Sklavenjungen die Aufgabe, die Fläche eines Quadrats zu verdoppeln. Doch der sagt nach einigen Hilfestellungen des S. resigniert: »Aber beim Zeus, S., ich weiß nicht, wie das geht.« S. entgegnet mit der denkwürdigen Antwort: »Doch, du weißt es. Du weißt nur nicht, daß du es weißt.« S. läßt nicht locker und arbeitet mit »beharrlicher Fragenenergie« (Hans-Georg Gadamer) weiter, bis er als Ergebnis findet, daß man ein Quadrat über der Diagonale des zugrundeliegenden Quadrats konstruieren muß, um ein Quadrat zu erhalten, das den doppelten Flächeninhalt wie das zugrundeliegende hat. Der Knabe findet alle Antworten durch das geschickte Fragen des S. Letzterer ist der Überzeugung, daß alles Wissen schon in uns läge. Dem Menon sagt er: »Sieh nun, daß ich immer nur frage und niemals lehre.« Das Wissen, das in jedem Menschen läge, müsse »durch Fragen aufgeregt und so zu Erkenntnissen gemacht werden«.

Während die Sophisten – wie es S. im Dialog Gorgias vorführte – ihre eigene Meinung durchzusetzen strebten, indem sie geschickt redeten und überredeten, kam es S. neben der Sachklärung wie im Dialog Menon auf die Bildung einer moralischen Haltung im theoretischen Dialog an. Die Menschen sollten fähig werden, mit anderen zu kommunizieren und ihre eigene Meinung zu korrigieren. Dialogprinzip war die Anerkennung der Gleichwertigkeit und das Ernstnehmen aller Gesprächspartner. In den sokratischen Dialogen der Antike, an die Leonard Nelson 1922 anschließt, kamen demnach praktische und theoretische Intentionen zur Deckung.

Wie führt S. die Menschen zu den Einsichten über ihr vermeintliches Wissen? Er fragt ironisch. Wenn jemand – wie im Dialog Laches – sagt, was Tapferkeit ist, dann stellt S. eine Lebenssituation vor, in der es anders ist. Seine Frage lautet dann immer: »Kann es nicht ganz anders sein?« Oder: »Müssen wir jetzt nicht die Wesensbestimmung erweitern oder verändern?« Mit diesen Fragen versucht er, der Wahrheit näher zu kommen, macht aber gleichzeitig deutlich, daß er selbst sie auch nicht angemessen formulieren kann. Das ist die sokratische Ironie. Man kann sagen, daß eine ironische Aussage im sokratischen Sinne die notwendig unangemessene Formulierung der Wahrheit ist, mit dem gleichzeitigen Hinweis auf ihre Unangemessenheit. Warum muß die Formulierung der Wahrheit notwendig unangemessen sein? S. wußte, daß er das Wesen einer Sache nicht angemessen darstellen konnte, zumal nicht das Wesen von allem, was ist. Dies liegt nach seiner Auffassung an der Unzulänglichkeit des menschlichen Geistes, im Gegensatz zum göttlichen Geist. Im letzten Satz seiner Verteidigungsrede, nachdem er in einem Prozeß, der sich laut Hans-Georg Gadamer gegen den »Wissenschaftler« und »Intellektuellen« S. richtete, zum Tode verurteilt worden war, machte er diese Unzulänglichkeit deutlich: »Aber es ist Zeit, von hier zu gehen, für mich zu sterben und für euch zu leben; wer von uns zum Besseren kommt, das weiß niemand als der Gott allein.«

Oft ist S. vorgehalten worden, er wolle die Menschen nur in eine bestimmte Richtung lenken, so daß sie seine Auffassung annähmen. Wer das meint, hat den Sinn metaphysischen Suchens nicht verstanden. S. wußte wirklich keine endgültigen Antworten – wie uns der letzte Satz seiner Verteidigungsrede zeigt. Er war davon überzeugt, daß nur das fragende Suchen das Denken weiterbringt: Die reine Wahrheit weiß nur der Gott allein. – Durch sein kritisches Fragen gefährdete S. nach Ansicht seiner Richter den Bestand des griechischen praktischen und theoretischen Wissens. Statt die Jugend in diesem Wissen zu unterweisen, lehrte er sie, dieses Wissen kritisch zu hinterfragen und selbständig zu denken. Ein wesentlicher Anklagepunkt war deshalb auch die Verführung der Jugend; ein anderer die Einführung neuer Gottheiten, womit die Vernunft gemeint war.

Es gibt heute zwei ganz unterschiedliche Rezeptionsweisen: Diejenigen, die davon überzeugt sind, daß die Auswirkungen der Aufklärung, der Wissenschaft und des metaphysischen Denkens überhaupt notwendig in den Untergang führen, haben schärfste Kritik an dem Begründer dieser Denkweise geübt. Diejenigen, die in dieser Denkweise die größten Möglichkeiten der Menschheitsentwicklung sehen, verehren in S. den Begründer dieser Denkweise, obwohl sie zum Teil – wie Max Weber – die Gefahr der Verkümmerung der Vernunft auf ihr rein instrumentelles Moment sehen. Leonard Nelson hat die Methode des S. für die heutige Zeit belebt und weiterentwickelt. In nicht unbeträchtlichem Maße wird sie in der Nelsonschen Modifikation heute praktiziert.

Pleger, Wolfgang F.: Sokrates. Der Beginn des philosophischen Dialogs. Reinbek 1998. – Martens, Ekkehard: Zwischen Gut und Böse. Elementare Fragen angewandter Philosophie. Stuttgart 1997. – Hoesch, Nicola: Art. »Sokrates«. In: Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996 ff., Bd. 11, Sp. 674–686. – Figal, Günter: Sokrates. München 1995. – Horster, Detlef. Das Sokratische Gespräch in Theorie und Praxis. Opladen 1994. – Martens, Ekkehard: Die Sache des Sokrates. Stuttgart 1992. – Gadamer, Hans-Georg: Sokrates’ Frömmigkeit des Nichtwissens. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 7. Tübingen 1991, S. 83–117. – Nelson, Leonard: Die sokratische Methode. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1. Hamburg 1970.

  • Die Autoren
Herausgegeben von Bernd Lutz

Albert, Claudia (Berlin): Ariès, Diderot, Elias, Jonas, Ricoeur
Altmayer, Claus (Saarbrücken): Garve
Arend, Elisabeth (Bremen): Bourdieu, Durkheim, Ficino
Askani, Hans-Christoph (Paris): Bultmann, Lévinas, Rosenzweig
Bachmaier, Helmut (Konstanz): Herodot, Simmel
Baecker, Dirk (Witten/Herdecke): Baudrillard
Baltzer, Ulrich (München): Searle
Baumhauer, Otto A. (Bremen): Gorgias, Hippias, Prodikos, Protagoras
Beierwaltes, Werner (München): Proklos Diadochos
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Boin, Manfred (Köln): Fichte
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Bormann, Claus von (Bielefeld): Lacan, Lévi-Strauss
Brede, Werner (München): Plessner
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Fülberth, Georg (Marburg): Bernstein, Luxemburg
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Mai, Katharina (Stuttgart): Derrida
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Mehring, Reinhard (Berlin): Kelsen, Schmitt
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Mensching, Günther (Hamburg): Duns Scotus
Meuter, Norbert (Berlin): MacIntyre
Meyer, Thomas (Dortmund): Nelson
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