Metzler Philosophen-Lexikon: Tocqueville, Alexis Henri Clérel de
Geb. 29. 7. 1805 in Paris;
gest. 16. 4. 1859 in Cannes
»Ich kam am Ende einer langen Revolution zur Welt, die den alten Staat zerstört und nichts Dauerhaftes begründet hatte. Als ich anfing zu leben, war die Aristokratie schon gestorben und die Demokratie noch nicht geboren Ich befand mich, mit einem Wort gesagt, zwischen Vergangenheit und Zukunft so gut im Gleichgewicht, daß ich von Natur und Instinkt aus keiner von beiden zuneigte, und brauchte keine großen Anstrengungen zu machen, um beide Seiten mit ruhigen Augen betrachten zu können.« Geboren unter den Schatten der Revolution von 1789, wird T. Augenzeuge der Revolutionen von 1830/31 und 1848. Die permanenten Umbrüche verschmelzen ihm zum Bild einer unaufhaltsamen, die Gesellschaft und den Einzelnen verändernden Revolution – »denn es gibt nur eine Revolution, die durch ihre verschiedenen Schicksale hindurch die gleiche bleibt, eine Revolution, deren Anfänge unsere Väter sahen und deren Ende, wenn die Wahrscheinlichkeit nicht trügt, wir nicht sehen werden.« So T. später in seinen Souvenirs (posthum 1893; Erinnerungen). Diese Passage von der vergehenden zur vage sich abzeichnenden modernen Welt zu erhellen, wird T. s. Lebenswerk sein.
Seine Familie, Glied in der Kette eines normannischen Adelsgeschlechts, hängt an der alten Welt. Die Mutter ist Enkelin von Malesherbes, Verteidiger Ludwigs XVI. vor dem Revolutionstribunal. Malesherbes wie auch sein Sohn werden hingerichtet, aber T. s. Eltern können aus der Gefangenschaft befreit werden. Die Familie ist von der Revolution unmittelbar betroffen – die Geschehnisse weben sich in ihren Geschichten fort. Bis 1820 wird T. durch Abbé Lesueur erzogen – liebevoll, streng katholisch, auch im Geist von Blaise Pascal und Jacques Bénigne Bossuet. 1821 tritt er in die Rhetorikklasse des Collège Royal von Metz ein, wo er eine natur- und geisteswissenschaftliche wie philosophische Ausbildung erhält. Dort regen sich erstmals Zweifel gegenüber den ihm bislang selbstverständlichen Sichtweisen seiner Welt, der Welt der Aristokratie. Zweifel, die ihn nicht mehr loslassen und, in Verbund mit seiner schwächlichen Konstitution, immer wieder in Melancholie, aber auch in wachsende Distanz zur alten Welt stürzen. Gleichzeitig wandelt sich sein Glaube; es bleibt die Annahme einer die Geschichte mit unabänderlicher Notwendigkeit durchwaltenden Vorsehung im Sinne Bossuets, innerhalb deren jedoch dem Menschen die Würde und Verantwortung zukommt, sein Schicksal in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Von 1823 bis 1826 absolviert er in Paris ein Jurastudium; ein Jahr später ist er Hilfsrichter am Gericht zu Versailles. In diesem Amt, auf Drängen seiner Familie, aber ohne Begeisterung, übernommen, erwirbt T. praktische politische und juristische Kenntnisse auf Verwaltungsebene. Er kann dabei an Erfahrungen anknüpfen, die sein Vater in seiner Präfektenlaufbahn gesammelt hatte.
Die Julirevolution von 1830 versetzt der Juristenkarriere eine jähe Wendung. T. sieht die Gesellschaft des Mittelmaßes anbrechen. Zwar leistet er noch den von den Seinen verweigerten Eid auf den Bürgerkönig, doch verschafft er sich mit seinem Freund und Kollegen Gustave de Beaumont den offiziellen Auftrag, in Vorbereitung einer in Frankreich anstehenden Reform des Gefängniswesens eine Studienreise in die USA zu unternehmen, deren Strafvollzugssystem als vorbildlich galt. Diese Reise, der viele andere folgen, soll räumliche Distanz und Antwort darauf bringen, wie eine große Republik möglich ist, in der sich Freiheit und Gleichheit glücklich verbinden. Die Freunde halten sich 1830/31 in der Neuen Welt auf. Impressionen von Land und Leuten, Gespräche mit Repräsentanten aus Politik und Recht hält T. minutiös in seinen Reisenotizen fest. Wieder in Frankreich, arbeiten Beaumont und T. zunächst an ihrer Studie über das amerikanische Gefängniswesen, die 1833 unter dem Titel Du système pénitentiaire aux Etats-Unis et de son application en France (Amerikas Besserungssystem und dessen Anwendung auf Europa) erscheint und an der Beaumont den Hauptanteil hat.
Doch für T. ist das wichtigste Reiseergebnis das Buch De la démocratie en Amérique (Über die Demokratie in Amerika), dessen erster Band 1835, der zweite 1840 erscheint, und das John Stuart Mill als das erste große, der Demokratie in der Neuzeit gewidmete Werk der politischen Philosophie würdigt. Grundproblem der Schrift ist die T. seit geraumer Zeit beschäftigende Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit. Seine Diagnose: Seit Jahrhunderten vollzieht sich unaufhaltsam ein Prozeß zunehmender Gleichheit der Lebensbedingungen der Menschen. Diese Egalisierung jedoch bringt nicht per se einen Freiheitsgewinn mit sich. Vielmehr besteht die Gefahr, daß zunehmende Gleichheit und Individualismus über die Abnahme der in der aristokratischen Gesellschaft noch garantierten sozialen Bindungen in Gleichgültigkeit gegenüber dem Gemeinwohl, in Interesse- und Verantwortungslosigkeit des einzelnen an politischen Belangen umschlagen. In diesen Tendenzen, mit denen T. als einer der ersten Grundprobleme moderner Massendemokratien aufdeckt, sieht er Gefahren für die Demokratie, Möglichkeiten ihres Umschlagens in einen für die damalige Zeit neuartigen Despotismus. Dieses Modell der Aushöhlung des öffentlichen Raums, des Abbaus der intermediären Schichten und damit der gemeinsamen Sache (»res publica«) als Möglichkeitsbedingung von Despotie, das T. von seinem Vorbild Montesquieu übernimmt, greifen, unter wieder neuen Kontexten, Hannah Arendt, Michael Walzer und andere in ihren politischen Philosophien auf. Obzwar in der Rezeptionsgeschichte immer wieder von liberaler Seite her vereinnahmt, ist T. mit dieser Kritik am Individualismus einer der frühen Kritiker des Liberalismus: Die ihm so heilige Freiheit ist nicht die Freiheit des Laissez faire – laissez allerˆ.
Doch ist es T.s politisches Anliegen, mit seinem Werk derartigen Gefahren entgegenzuwirken und Gegentendenzen aufzudecken, die, im politischen Handeln geschickt genutzt, das Schicksal wenden können. Solche Gegentendenzen entdeckt er in den USA, ja das politische System der USA wird ihm zum Modell einer funktionierenden Republik. Wiederum von Montesquieu ausgehend, sieht er einen engen Zusammenhang von politischem System einerseits und Sitten, Gebräuchen, Gewohnheiten der Menschen andererseits. Erst wenn das politische System in letzteren verankert ist, wenn es in den alltäglichen Verhaltensweisen der Menschen beständig umgesetzt wird, komme ihm Stabilität zu. Die Analyse der Sitten ist ihm Mittelpunkt seines Denkens: »Sollte es mir nicht gelungen sein, im Laufe dieser Arbeit die Bedeutung fühlen zu lassen, die ich der praktischen Erfahrung der Amerikaner, ihren Gewohnheiten, ihren Meinungen, mit einem Wort ihren Sitten für die Erhaltung ihrer Gesetze zuschreibe, so habe ich das Hauptziel verfehlt, das ich mir bei ihrer Abfassung vornahm.« In seiner Analyse akzentuiert nun T. die eher gemeinschaftsstiftenden und insofern dem Individualismus entgegenwirkenden Sitten der amerikanischen Bevölkerung. So spricht er der Religion eine politische Funktion zu, genauso wie unterschiedlichsten Formen von Vereinen, die die Verantwortung für öffentliche Belange übernehmen und zwar oftmals nicht derart effizient wirken wie eine Zentrale, jedoch den Einzelnen in den öffentlichen Raum integrieren. Ähnlich deutet er die Geschworenengerichte. Und er ersetzt Montesquieus Tugendbegriff, von jenem noch in klassischer Tradition als soziomoralisches Fundament der Republik aufgefaßt, durch die der modernen Gesellschaft eher angemessene Vorstellung vom wohlverstandenen Eigeninteresse, derzufolge der Einzelne seine Ziele nur über die Vermittlung der Gemeinschaft realisieren kann. Am Ende des zweiten Bandes formuliert T. seine düstere Vision vom modernen Despotismus, die ihn zum Propheten totalitärer Entwicklungen im 20. Jahrhundert werden ließ: Über den gleich und gleichgültig gewordenen Menschen erhebe sich »eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild.« Auf sanfte Art schränke dieser despotische Souverän den Raum des freien Willens ein und lasse die Menschen schließlich »zu einer Herde ängstlicher und arbeitssamer Tiere« werden, »deren Hirte die Regierung ist.« T. ist kein Gegner der Demokratie wie etwa Edmund Burke. Auch wenn er gefühlsmäßig der alten Gesellschaft verbunden bleibt, ist er der Überzeugung, daß sich die demokratische Gesellschaft unausweichlich herausbildet in der Art einer Vorsehung. Doch deckt er ihre problematischen Potenzen auf und nimmt dabei Einsichten vorweg, die Max Weber an der Wende zum 20. Jahrhundert bei seiner Analyse von Disziplinierungseffekten moderner Bürokratien gewinnt, die die Einzelnen ihrer Freiheit und Verantwortung für die Gesellschaft berauben.
Immer wieder ringt T. mit dem Problem, neue Phänomene mit tradierten Begriffen ausdrücken zu müssen. »Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft«, schreibt er in der Einleitung zu De la démocratie en Amérique, und in diesem Verständnis seiner eigenen Aufgabe empfindet er oft Unbehagen darüber, seine Anschauungen sprachlich nicht vollständig vermitteln zu können – etwa die Vision des modernen Despotismus. Sein Buch aber ist ein großer Erfolg. 1838 wird er Mitglied der Académie des Sciences morales et politiques, 1841 der Académie française. In England wird er unmittelbar von J. St. Mill rezipiert und unterstützt, und in den USA wird sein Modell als Selbstbild der amerikanischen Gesellschaft übernommen.
Der Amerika-Aufenthalt bringt noch einen anderen Umschwung mit sich: T. enschließt sich, seine Geliebte Mary Mottley zu heiraten. Der Name sagt es: Sie entstammt englischem bürgerlichem Hause. In seinen Kreisen durchaus nicht selbstverständlich, wird T. dieser Schritt wohl auch durch seine Erfahrungen mit weitaus emanzipierteren Umgangsformen in der Neuen Welt möglich. T. ist nicht nur als Politik-Wissenschaftler zu verstehen. Auch als Politiker ist er aktiv. Seit 1839 ist er Abgeordneter seiner Heimat Valognes im Parlament und wirkt dort in der linken Mitte. Unzufrieden mit seiner Rhetorik, nimmt er des öfteren die Stellung eines Experten zu Sachfragen ein, etwa wenn es um das Strafrechtssystem, die Frage der algerischen Kolonie oder, während der Zweiten Republik, um einen neuen Verfassungsentwurf geht. 1849 wird er zum Außenminister ernannt. Ende Oktober von Louis Napoléon wie alle Minister entlassen und unter Vorahnung der folgenden politischen Prozesse, zieht er sich auch aus gesundheitlichen Gründen mehr und mehr aus dem politischen Leben zurück und widmet sich wieder seiner schriftstellerischen Tätigkeit.
Ab 1850 arbeitet er an seinen Souvenirs (Erinnerungen), dem eher persönlich gehaltenen Zeugnis der Revolution von 1848 aus der Sicht eines teilnehmenden Beobachters, in dem brillant Porträts von Zeitgenossen und Zeitgeschichte ineinander verwoben sind. Das größere Projekt dieser Zeit des inneren Exils jedoch ist die Arbeit an einer Schrift, die 1856 unter dem Titel L Ancien Régime et la Révolution (Der alte Staat und die Revolution) veröffentlicht wird. Schon 1836 hatte T. für J. St. Mills Zeitschrift London and Westminster Review die Abhandlung L Etat social et politique de la France avant et après 1789 (Die gesellschaftliche und politische Ordnung Frankreichs vor und nach 1789) verfaßt, an die er nun anknüpfen kann. Neben der Orientierung an schon veröffentlichten Werken zur französischen Revolution ist ihm auch hier Montesquieu Vorbild, diesmal dessen historische Schriften. Auf der Basis der Analyse von Dokumenten aus der vorrevolutionären Zeit sucht T. den Nachweis dafür zu erbringen, daß, im Gegensatz zu Behauptungen sowohl von Kritikern als auch Befürwortern der französischen Revolution, dieselbe nur auf der Oberfläche der Phänomene einen absoluten Bruch mit der Vergangenheit bedeute; daß vielmehr sowohl auf mentaler als auch politischer und administrativer Ebene in der nachrevolutionären Zeit an Prozesse angeknüpft wurde, die schon weit vor der Revolution abliefen. So stünde die Zentralisation von Staat und Verwaltung nach 1789 in Kontinuität mit den absolutistischen Strukturen des Ancien Régime. Wie schon in De la démocratie en Amérique geht er auch hier auf die problematischen Konsequenzen der Zentralisation ein. Im dritten Buch setzt er sich mit der Rolle der französischen Philosophen in der Zeit vor der Revolution auseinander und deckt in ihrer Distanz zur praktischen Politik sozialstrukturelle Grundlagen der Abstraktheit und Radikalität ihrer Entwürfe auf. Diese Ausführungen können durchaus als erste Formen einer Soziologie der Intellektuellen gelten.
Raymond Aron würdigt T. als Begründer der Soziologie neben Auguste Comte und Karl Marx; habe Comte bei seiner Diagnose der modernen Gesellschaft der Industrie, Marx dem Kapitalismus den Vorrang eingeräumt, so stehe für T. die Demokratie im Mittelpunkt. Wilhelm Dilthey schätzt ihn als größten Analytiker der politischen Welt neben Aristoteles und Machiavelli. Die Fülle empirischen Materials, praktische Erfahrungen in Verwaltung und Politik, vielfältige Reisen im europäischen, nordamerikanischen und nordafrikanischen Raum gestatten ihm, seine geschichtsphilosophischen Anschauungen fundiert, lebendig, oftmals komparatistisch darzulegen. Auf dieser Basis gelangt T. zu Diagnosen und Prognosen über die sich herausbildende Moderne, die noch heute in Erstaunen versetzen. Zwischen Vergangenheit und Zukunft situiert, läßt er sich schwerlich nur bestimmten politischen oder wissenschaftlichen Parteiungen zuordnen.
Hereth, Michael: Tocqueville zur Einführung. Hamburg 1991. – Jardin, André: Alexis de Tocqueville. Leben und Werk. Frankfurt am Main/New York 1991. – Aron, Raymond: Hauptströmungen des soziologischen Denkens. Bd. 1: Montesquieu, Auguste Comte, Karl Marx, Alexis de Tocqueville. Köln 1971. – Mayer, Jacob Peter: Alexis de Tocqueville. Prophet des Massenzeitalters. Stuttgart 1955.
Effi Böhlke
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