Metzler Philosophen-Lexikon: Toulmin, Stephen Edelson
Geb. 25. 3. 1922 in London;
gest. 4. 12. 2009 in Los Angeles
Obgleich T.s wichtigste Werke auch in Deutsch erschienen sind, unterscheidet sich die Einschätzung seiner philosophischen Leistung in Deutschland stark von der im anglo-amerikanischen Raum. Während T. besonders in den USA als theoretischer Ethiker, als Philosoph der klinisch medizinischen Praxis, als moderner Rhetoriker, aber auch als eloquenter Historiker der Wissenschaften, besonders der Physik, der Evolutionsbiologie und der Medizin bekannt ist, so ist er hierzulande vorwiegend als Logiker angesehen durch sein Frühwerk The Uses of Arguments (1958; Der Gebrauch von Argumenten, 1975) – und das, obgleich es Mitte der 1990er Jahre nachgerade zu einer Flut von Neuauflagen bzw. Neuerscheinungen seiner Werke in Deutschland kam. Hierfür mag es vielfältige Gründe geben – mitverantwortlich aber ist sicherlich der Umstand, daß die Schnittstelle zwischen Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte in Deutschland erst spät als eigenständiges Forschungsgebiet angesehen wurde, ganz im Gegensatz zu den in England und den USA betriebenen philosophy and history of sciences. Ein weiterer Grund liegt vermutlich in der Tatsache, daß T. nicht einer einzigen philosophischen Richtung oder gar einer Leitwissenschaft zuzuordnen ist – sein Interesse gilt vielmehr dem, was die Wissenschaft zur Wissenschaft macht.
T. absolvierte seine akademische Grundausbildung zunächst in den Naturwissenschaften: 1942 erhielt er seinen Bachelor of Arts in Mathematik und Physik vom Londoner King’s College, kurz bevor er als junger wissenschaftlicher Mitarbeiter für das im Krieg gegründete britische Ministry of Aircraft Production arbeitete. Bis zum Jahr 1945 war T. für Radar- und Aufklärungstechnik unter anderem auch in Deutschland zuständig; danach kehrte er nach England zurück. Seine Doktorarbeit mit dem Titel Reason in Ethics untersucht die Unterschiede und Ähnlichkeiten menschlicher Urteile sowohl in moralischer wie auch in wissenschaftlicher Hinsicht. 1949 ernannte ihn die Oxford University zum University Lecturer in Philosophy of Science und vier Jahre später veröffentliche T. sein erstes eigenständiges Werk: The Philosophy of Science: An Introduction (1953). Dieses Werk stand einerseits unter dem Einfluß Ludwig Wittgensteins, dessen Schüler T. während seines Studiums in Cambridge war, andererseits war es Ausdruck der Kritik am Logischen Positivismus und am Logischen Empirismus: Wenn, ganz im Sinne der Aristotelischen Nikomachischen Ethik, die Logik nur ein unzureichendes Werkzeug der Vernunft ist, dann bedarf es einer grundsätzlichen Revision von Rationalität und wissenschaftlicher Vernunft.
Zum Ende des Jahres 1954 wurde T. zum Visiting Professor of History and Philosophy of Science an der Melbourne University of Australia ernannt, kehrte aber bereits nach einem akademischen Jahr wieder nach England zurück, um die Stelle des Professors und Chairs des Department of Philosophy an der Universität Leeds anzunehmen. Entsprechend seiner festen Überzeugung, daß in den Wissenschaften zwischen substantiellen und formalen Argumenten unterschieden werden müsse und somit der traditionellen Logik ein vollständig anderer Stellenwert zukäme als bislang in der Philosophie und den Wissenschaften geschehen, schrieb T. sein als »Anti-Logik-Buch« verschrieenes Werk The Uses of Arguments (1958; Der Gebrauch von Argumenten, 1975). Seine argumentationstheoretische Untersuchung fordert eine Neuorientierung an der Praxis der Argumentation und insofern die Aufgabe des Ideals der deduktiven Logik, da diese zu wenig die Komplexität der realen Argumentationsstruktur beachte. Während die theoretische oder analytische Argumentation – ganz im Sinne des Platonischen Ideals der formalen deduktiven Logik – zur universellen Wahrheit unabhängig vom konkreten Argumentationskontext strebt, fehlt eine praktische oder substantielle Argumentation, die, eher in Anlehnung an Aristoteles’ Topik und Rhetorik, die Formen der Wahrscheinlichkeit in Betracht zieht und ihr zugleich auch dient. Während die Analogie der analytischen Argumentation die Geometrie war, so ist es die juristische Argumentation des Gerichtsverfahrens für die substantielle Argumentation.
So innovativ dieser Ansatz zur Schaffung einer nicht-formalen Logik und zu einer Theorie der nicht-deduktiven Argumentation war, so gering war die Resonanz in der philosophischen Fachwelt. Größere Anerkennung fand T. für seine radikale Neuorientierung der Argumentation und Logik erst in den USA während seiner Forschungsaufenthalte an den Universitäten New York, Stanford und Columbia mit Beginn des Jahres 1959 – aber nicht etwa in der Philosophie oder Logik, sondern im Feld der Kommunikationswissenschaften, der Rhetorik und der Rechtswissenschaften. The Uses of Arguments wurden hier als Strukturmodell verstanden, mit dessen Hilfe Argumente bei der Analyse von Sprach- und Kommunikationsakten konstruiert und klassifiziert werden konnten.
1960 kehrte T. wiederum nach England zurück und wurde Leiter der Abteilung History of Ideas der privaten Nuffield Foundation in London, die 1943 von Lord Nuffield vormals William Morris, dem Gründer von Morris Motors, zur Erforschung und Förderung neuer Wissenschaften eingesetzt worden war. Fünf Jahre später, 1965, wurde T. Professor for the History of Ideas and Philosophy an der Brandeis University in Massachusetts und wechselte 1969 als Philosophieprofessor an die Michigan State University. 1972 wurde er zum Professor of Humanities an der University of California in Santa Cruz ernannt und veröffentlichte in demselben Jahr den ersten der geplanten drei Bände mit dem Titel Human Understanding: The Collective Use and Evolution of Concepts – eine Gegenüberstellung der Positionen von Gottlob Frege (von T. dargestellt als logischer und konzeptueller Absolutist) und R. G. Collingwood (der einen Relativismus der Begriffe vertritt) im Sinne einer Kritik der kollektiven Vernunft (1978).
1973 schrieb T. gemeinsam mit Alan Janik das Buch Wittgenstein s Vienna (1973) und wurde zugleich Professor im Committee on Social Thought an der University of Chicago. Zwischen 1975 und 1978 arbeitete er unter anderem in der National Commission for the Protection of Human Subjects of Biomedical and Behavioral Research, eingesetzt vom Kongreß der Vereinigten Staaten. Während dieser Zeit begann er gemeinsam mit Albert R. Jonsen das Werk The Abuse of Casuistry: A History of Moral Reasoning (veröffentlicht erst 1988). Die aus dem Mittelalter bzw. der Renaissance bekannte Kasuistik, so T. und Jonsen, sei eine effektive Form praktischer Argumentation besonders im Bereich moralischer und alltäglicher Entscheidungsfindung. Durch die Entwicklung und Anwendung einzelner oder mehrerer sogenannter exemplarischer Typen und Paradigmenfälle lassen sich individuelle und situationsgerechte Urteile fällen, so T., etwa in Fällen, zu denen es bislang keine gültigen Argumentationen oder Urteile gibt. T. und Jonsen geben hier das Beispiel eines seit acht Jahren verheirateten Familienvaters mit drei Kindern, der sich zu einer Hormontherapie entschließt, um eine Geschlechtsumwandlung durchführen zu lassen. In diesem und in anderen Beispielen geht es T. darum, die Unzulänglichkeit allgemeingültiger Regeln und theoretischer Prinzipien darzustellen und für eine Argumentationslogik zu werben, die einerseits verbindlich ist und andererseits relativ und flexibel bleibt.
1986 verließ T. die University of Chicago und wurde Avalon Foundation Professor of the Humanities an der benachbarten Northwestern University in Evanston. Dort entstand auch eines seine letzten Werke, Cosmopolis: The Hidden Agenda of Modernity (1990; Kosmopolis: die unerkannten Aufgaben der Moderne, 1991). Hier kritisiert T. die gängige Standarddarstellung der Moderne, nach der die meisten europäischen Länder im 17. Jahrhundert eine wirtschaftliche Blütezeit erlebt hätten und dadurch eine von der Kirche unabhängige Laienkultur entstanden sei, die geistige Revolutionen eines Descartes oder Galilei erst ermöglicht hätten. Danach war die Akzeptanz selbstevidenter Erfahrungen keineswegs nur begründet in wissenschaftlichen Einsichten, sondern bedeutete allzu oft einen Rückzug auf eine »platonische Rationalität«, die nur noch diejenigen Argumente zuließ, die eine »quasi-geometrische Gewißheit oder Notwendigkeit erreichten«. Heute klassische Wissenschaftsgebiete wie etwa die Biologie fielen aus genau diesem Grunde aus dem Wissenskanon der frühen Neuzeit heraus, während die mathematisch-theoretische Physik zur Leitwissenschaft erhoben wurde.
Deshalb ist es nötig, so T., die Epoche der Moderne neu zu bewerten und zugleich den Lebenskontext von Forschern wie Descartes zu untersuchen hinsichtlich der Frage, was ihn dazu bewog, sich einer »platonischen Realität« zu verschreiben. Moderner als Descartes sieht T. Autoren wie Michel de Montaigne oder William Shakespeare, die jedem Dogmatismus eine Absage erteilt und »im Glauben an die Fehlbarkeit einen Pluralismus der Ideen und Meinungen« gefordert hätten. Auf diese erste rationalistische Phase folgte demnach in den 1960er und 70er Jahren eine zweite, an der Geometrie orientierte Erkenntnismethodik – not tut aber nach T. eine erneute Orientierung an den Werten der Renaissance quasi als dritte rationalistische Phase.
Nach verschiedenen Auszeichnungen und Stipendien – T. war unter anderem Phi Beta Kappa National Lecturer, Gastwissenschaftler am renommierten Hastings Center, das ethische und soziale Probleme in den Bereichen Medizin, Biologie und Biotechnologie erforscht, sowie Guggenheim Fellow – wurde T. mit Beginn der 1990er Jahre Henry R. Luce Professor für Anthropology and International Relations am College of Letters, Arts and Sciences an der University of Southern California in Los Angeles. 1997 erhielt T. den Titel des Jefferson Lecturer, die landesweit höchste Auszeichnung in den Geisteswissenschaften der Vereinigten Staaten, und war viele Jahre ein von den Studenten hochgeschätzter faculty master am North College in Kalifornien. – Die Washington Post schrieb vor einiger Zeit, daß T. einer der herausragendsten Generalisten unter den zeitgenössischen Wissenschaftlern und Intellektuellen sei – ein Ruf, der ihn vielleicht erst in einigen Jahren posthum auch in Deutschland ereilen wird.
Tanner, William E./Seibt, Betty Kay (Hg.): The Toulmin Method: Exploration and Controversy. Arlington 1991. – Seibert, Thomas-M.: The Arguments of a Judge. In: Argumentation: Analysis and Practices (1987), S. 119–122. – Ehninger, Douglas/Brockriede, Wayne: Decisions by Debate. New York 1963.
Jörg F. Maas
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