Metzler Philosophen-Lexikon: Weber, Max
Geb. 21. 4. 1864 in Erfurt;
gest. 14. 6. 1920 in München
W. war – seinen Studien, seinen akademischen Qualifikationen und Positionen, den Schwerpunkten seiner Forschung und seinem Selbstverständnis nach – Jurist, Historiker, Nationalökonom und Soziologe. Sehr bewußt beschränkte er sich mit seinen Forschungen auf das Gebiet der empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften, die nach seiner Überzeugung auch in ihrer Gesamtheit weder philosophische Ansprüche zu erheben noch – wie etwa für Karl Marx oder Emile Durkheim – die Philosophie zu ersetzen oder »aufzuheben« imstande waren. Trotzdem sagt Karl Jaspers von ihm, daß er, und zwar »vielleicht als einziger in neuerer Zeit und in einem anderen Sinne, als irgendjemand sonst heute Philosoph sein kann«, als Philosoph gelten müsse; W. nämlich habe »der philosophischen Existenz gegenwärtigen Charakter verschafft«. Und auch Karl Löwith sieht eine wesentliche Vergleichbarkeit der beiden Gelehrten darin, daß sie in einem »ungewohnten und ungewöhnlichen Sinne« Philosophen gewesen seien.
Diese Äußerungen deuten an, daß sich die Philosophie W.s tatsächlich nicht in der Form einer neuartigen Lehre oder eines ganzen Denksystems darstellt, sondern aufs engste mit der Art und Weise verknüpft ist, in der er seine kulturund sozialwissenschaftlichen Forschungen begründet und betrieben hat. In dieser Hinsicht wird man zunächst und vor allem an die Abhandlungen zur Wissenschaftslehre denken, auf die W. außergewöhnlich viel Energie verwandte, nachdem er in seiner ersten Schaffensphase mit bedeutenden rechts-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten hervorgetreten war und eine sehr schwere, von 1897 bis 1903 andauernde psycho-physische Krise überwunden hatte. In diesen Erörterungen geht es keineswegs um i.e.S. methodische oder forschungstechnische Probleme der Kultur- und Sozialwissenschaften, sondern darum, die Möglichkeiten, die Eigentümlichkeiten und die Grenzen erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis auf diesem Gebiet in einer sehr grundsätzlichen Weise aufzuklären und zu bestimmen. Dabei stellt sich W. ausdrücklich in die Tradition »der auf Kant zurückgehenden modernen Erkenntnislehre«. Demgemäß sieht er seine Aufgabe nicht darin, die sozial- und kulturwissenschaftliche Erkenntnis allererst zu ermöglichen und auf die Bahn zu bringen. Vielmehr soll der Vollzug solcher Erkenntnis auf seine bewußten oder unbewußten Voraussetzungen und Zielsetzungen und damit auf seinen »Sinn« hin untersucht und geprüft werden. Im Unterschied zu Kant und auch zu Heinrich Rikkert, mit dessen »neukantianischer« Wissenschaftslehre (Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1902) er im übrigen weitgehend übereinzustimmen glaubte, gründet W. seine Kritik der kulturwissenschaftlichen Erkenntnis jedoch nicht in dem Sinne auf transzendentale Prinzipien, daß dadurch ihre Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit (und ihre Objektivität) gesichert würde. Außer mit den – durchaus gewichtigen – Problemen der (formalen und Forschungs-)Logik befaßt sich seine Kritik vielmehr in der Hauptsache mit dem Tatbestand, daß die »Auswahl und Formung« der Gegenstände kulturwissenschaftlicher Erkenntnis in spezifischer Weise von historisch wandelbaren »Wertbeziehungen«, also von einem geschichtlichen bzw. Geschichtlichkeit stiftenden Apriori abhängt: »Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist, daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen.« Es ist diese »transzendentale Voraussetzung«, die die Sozial- und Kulturwissenschaften als »Wirklichkeitswissenschaften« charakterisiert, also als Wissenschaften, die – anders als die auf »nomologisches« Wissen abstellenden Wissenschaften – an die konkrete, lebensweltliche Erfahrung des Menschen zurückgebunden bleiben. Aus diesem Grunde geht es bei der logischen oder »methodologischen« Kritik kultur- und sozialwissenschaftlicher Erkenntnis auch nicht bloß um innerwissenschaftliche, gar forschungstechnische Probleme, sondern um die »Selbstbesinnung verantwortlich handelnder Menschen«. Die leitende Frage solcher Selbstbesinnung aber lautet: Was bedeutet es, wenn nun auch die geschichtlich-gesellschaftliche, also kulturelle Wirklichkeit zum Gegenstand erfahrungswissenschaftlicher Forschung gemacht wird? Angesichts der zu seiner Zeit unter Sozialwissenschaftlern und Philosophen verbreiteten Konfusionen und Selbstmißverständnisse vertritt und begründet W. vor allem die folgenden Leitgedanken: 1. Weder die Sinnhaftigkeit der Kulturwirklichkeit (und die daraus folgende Notwendigkeit eines verstehenden Zugangs) als solche, noch die – vermeintliche – Irrationalität des geschichtlichen Geschehens und auch nicht die – fälschlicherweise – als »irrational« qualifizierte Rolle menschlicher Freiheit stehen dem Streben nach kausalen Erklärungen und nach Objektivität prinzipiell entgegen. 2. Trotz der konstitutiven Rolle von »Wertbeziehungen« und des Tatbestandes, daß Werte, Wertewandel und wertorientiertes Handeln wichtige Gegenstände kulturwissenschaftlicher Forschungen darstellen, gilt auf der Ebene erfahrungswissenschaftlicher Argumentation aus logischen Gründen das Prinzip der »Wertfreiheit«: »Die kausale Analyse liefert absolut keine Werturteile, und ein Werturteil ist absolut keine kausale Erklärung.« Die Frage, ob mit den Mitteln der Philosophie Werturteile (insbesondere moralischer Art) nicht nur zu präzisieren und auf ihre letzten Prämissen zurückzuführen, sondern auch zu begründen sind, läßt W. offen. 3. Auch die Sozial- und Kulturwissenschaften sind, ebenso wie die Naturwissenschaften, grundsätzlich außerstande, umfassende, das Erkennen und das Handeln im ganzen orientierende, also quasi-religiöse oder metaphysische »Weltanschauungen« zu stiften. Daß dies dennoch immer wieder versucht wird, erklärt sich aus einem unzulänglichen Bewußtsein von den Grenzen erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis oder – im schlechteren Falle – aus einem ideologischen Interesse.
Insbesondere die beiden letzten Feststellungen hängen unmittelbar mit W.s Thesen von der »Entzauberung der Welt« durch die okzidentale, insbesondere die neuzeitliche Wissenschaft zusammen: »Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, daß Weltanschauungenˆ niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können.« Damit ist auch gesagt, daß die »Entzauberung der Welt« durch die Wissenschaft sich am Ende zur Selbstentzauberung der Wissenschaft und damit zu einer sehr prinzipiellen Problematisierung des Sinns von Wissenschaft überhaupt radikalisiert. Diese Entwicklung ist insofern unausweichlich und irreversibel, als sie – dieser Gedanke verweist ebenso wie die Entzauberungsthese selbst vor allem auf Nietzsches Analysen zum »europäischen Nihilismus« – aus der unbedingten Selbstverpflichtung zur »intellektuellen Rechtschaffenheit« resultiert. Intellektuelle Rechtschaffenheit – der Entschluß, sich im Streben nach Erkenntnis selbst »treu bleiben« zu wollen – ist das der Entzauberung der Welt allein gemäße moralische Prinzip und das konstitutive Element jeder noch möglichen Idee von »Persönlichkeit«.
Der größere geschichtlich-gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhang, in dem sich der Prozeß der Entzauberung der Welt vollzieht, ist die Entstehung und Durchsetzung des spezifisch okzidentalen Rationalismus; er bildet das bestimmende Thema der materialen historisch-sozialwissenschaftlichen Forschungen W.s, insbesondere seiner vergleichenden Untersuchungen zur Wirtschaftsethik der Weltreligion, deren erste und bekannteste die Abhandlung Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05) ist. Der in philosophischer Hinsicht wichtigste Aspekt des okzidentalen Rationalisierungsprozesses besteht in der Auflösung der Einheit, Verbindlichkeit und Integrationskraft umfassender Weltdeutungen religiöser, metaphysischer oder weltanschaulicherˆ Art. Die Suche nach Wahrheit (in einem entsprechend restringierten Sinne) ist zur Domäne einer sich ihrerseits immer weiter ausdifferenzierenden und verfachlichenden Wissenschaft geworden. Die Religion, die Ethik und die Ästhetik, natürlich auch die Ökonomie, die Politik oder etwa die Erotik, haben sich zu mehr oder minder eigenständigen Wertsphären oder Subsystemen mit je eigenen Leitideen, Funktionen und Kommunikationsformen ausgebildet. Der immer deutlicher zutage tretende Pluralismus und Widerstreit letzter Sinngebungen (davon handelt W. vor allem in seiner für die Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie (1920/21) verfaßten Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung) läßt sich auf keine Weise, also auch nicht mit philosophischen Mitteln, überwinden oder in einer neuen Synthese aufhebenˆ. Der moderne Individualismus ist eine unvermeidliche Folge und Funktion dieses Differenzierungs- und Rationalisierungsprozesses; zugleich enthält er die einzige Möglichkeit, diesem Prozeß einen positiven, obzwar auf die Sphäre des Politischen und Moralischen sowie des Ästhetischen begrenzten Sinn abzugewinnen.
Allerdings gibt es bei W. keinen Versuch, die individuelle Freiheit und Verantwortlichkeit als Prinzip der Moral und Politik philosophisch, etwa in transzendental-philosophischer oder metaphysischer Weise, zu begründen, wie dies etwa bei Georg Simmel, und zwar bis zum Verlust des Interesses an der Soziologie, geschieht. W.s Argumentation ist vielmehr in der Hauptsache historischer Natur, indem er auf die prägende Bedeutung bestimmter geistiger und politischer Traditionen – etwa der jüdisch-christlichen, insbesondere protestantischen Theologie und Religiosität einerseits, der bürgerlichen Aufklärung und ihrer Idee der Menschenrechte, der »wir schließlich doch nicht viel weniger als Alles verdanken«, andererseits – für die moderne Kultur verweist. Eine derartige historische Selbstbestimmung kann zwar durchaus nicht zu einer Letztbegründung, wohl aber zu einer wesentlichen Stärkung der Überzeugungs- und Motivationskraft jenes Prinzips führen. Selbst wenn die ehemals bestimmenden inhaltlichen (etwa religiösen oder metaphysischen) Begründungen des Individualismus nicht mehr zu überzeugen vermögen, bleibt die Destruktion aller unvordenklichen und überindividuellen Geltungsansprüche sozio-politischer Ordnungen natürlich ein irreversibler, nur aus mangelnder intellektueller Radikalität oder Rechtschaffenheit zu leugnender historischer Tatbestand. Zumindest ex negativo – durch den Nachweis der Unmöglichkeit jedes überzeugenden Gegenarguments – läßt sich die Idee oder das Postulat des Individualismus also rechtfertigen.
In eben diesem gedanklichen Kontext ist nun auch der – keineswegs bloß methodologische – Individualismus der Soziologie fundiert, zu der W. in grundsätzlicher und systematischer Weise zuerst in der Abhandlung Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913) und dann in wesentlich erweiterter Form in dem unter dem Titel Wirtschaft und Gesellschaft posthum (1922) edierten und unvollendet gebliebenen Werk den Grund gelegt hat. Diese Soziologie besitzt, wie schon angedeutet, keineswegs deshalb einen philosophischen Charakter und Status, weil mit ihr der Anspruch verbunden würde, die Philosophie zu ersetzen, aufzuhebenˆ oder zu vollenden. In diesem Punkt unterscheidet W. sich vielmehr prinzipiell von anderen Klassikern der Gesellschaftswissenschaft, so auch von Ernst Bloch und Georg Lukács, die – vor ihrer Hinwendung zum Marxismus – in Heidelberg von W. beeinflußt worden waren. Auf der anderen Seite liegt die philosophische Bedeutung der W.schen Grundlegung der Soziologie auch nicht nur darin, daß W. diese Wissenschaft nach eigenem Bekunden von Konfusionen, Unklarheiten und unbegründeten Anmaßungen befreien und in diesem Sinne eine Kritik sozialwissenschaftlicher Erkenntnis leisten wollte. Das philosophische, d.h. aufklärerische Motiv der W.schen Soziologie besteht vielmehr genau darin, diese Wissenschaft von den überindividuellen Gebilden und Prozessen aus der Perspektive eines durchaus auch normativen Individualismus, also im Blick auf das durch keine gesellschaftliche Ordnung zu überbietende oder aufzuhebende Recht der Individualität zu entwerfen. Es ist nur auf den ersten Blick paradox, daß dieser Grundzug seiner Soziologie gerade von philosophisch orientierten und ambitionierten Gesellschaftstheoretikern, und zwar nicht nur auf seiten des Marxismus oder des Organizismus (etwa bei Othmar Spann), heftig kritisiert worden ist.
Tenbruck, Friedrich H.: Das Werk Max Webers. Tübingen 1999. – Weiß, Johannes: Max Webers Grundlegung der Soziologie. München 21992. – Weiß, Johannes (Hg.): Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung. Frankfurt am Main 1989. – Hennis, Wilhelm: Max Webers Fragestellung. Tübingen 1987. – Whimster, Sam/Lash, Scott (Hg.): Max Weber. Rationality and Modernity. London 1987. – Henrich, Dieter: Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers. Tübingen 1952.
Johannes Weiß
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