Metzler Philosophen-Lexikon: Weigel, Valentin
Geb. 1533 in Naundorf bei Großenhain/
Sachsen; gest. 10. 6. 1588 in Zschopau/Sachsen
Bei wohl kaum einem anderen Denker der deutschen Philosophie- und Theologiegeschichte stehen Lebenslauf und Wirkungsgeschichte in einem so eklatanten Gegensatz wie bei W. Seine Biographie gleicht der ungezählter lutheranischer Geistlicher in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts: Nach Absolvierung der renommierten Fürstenschule St. Afra in Meißen (1549 bis 1554) studierte W. als kursächsischer Stipendiat von 1554 bis 1563 in Leipzig und anschließend bis 1567 in Wittenberg. Neben der außergewöhnlichen Länge seines Studiums fällt seine Neigung zu naturwissenschaftlichen Studien auf, die vielleicht auch den Wechsel nach Wittenberg veranlaßt hat. 1567 trat W. das Amt des Pfarrers in der kursächsischen Stadt Zschopau an, das er bis zu seinem Tod 1588 nicht mehr abgeben sollte. Die Protokolle, die bei den regelmäßigen Kontrollen der Geistlichkeit verfertigt wurden, erwähnen keine besonderen Auffälligkeiten über den Zschopauer Pfarrer.
Dies sollte sich jedoch nach seinem Tod grundlegend ändern: Seit dem Jahr 1609 erschienen Manuskripte W.s im Druck und erregten ungeheures Aufsehen. Die posthum erschienenen Schriften wie die Kirchen- oder Hauspostille (1617), Der güldene Griff (1613) oder sein Dialogus de Christianismo (1610) machten aus dem unbekannten Kleinstadtpfarrer, der zu seinen Lebzeiten nur eine unbedeutende Leichenpredigt hatte publizieren können, den Inbegriff des lutheranischen Ketzers zu Beginn des 17. Jahrhunderts. – W. verbindet in seinen Arbeiten wichtige Strömungen der frühneuzeitlichen Philosophie- und Frömmigkeitsgeschichte. Anstöße gaben ihm die pantheistischen Ideen der Neuplatoniker und ganz besonders die deutsche Mystik. Er knüpfte an Johannes Taulers Lehre vom inneren und äußeren Menschen an und erweiterte sie mit Gedanken aus der anonymen Theologia deutsch, einem Werk, das starken Einfluß auf den jungen Luther ausgeübt hatte. Die intensive Rezeption der Theologia verband W. auch mit Sebastian Franck. Anregungen zu seinen naturphilosophischen Studien bezog W. aus dem Werk des Paracelsus. Die Konzentration auf den inneren Menschen führte W. zur Negation der empirischen Erscheinungsform der Kirche und der ihr zugrundeliegenden Glaubenswahrheiten. »Die Kirchen sind eitel Mördergruben«, »der Mensch selber solle der Tempel sein«. Diese radikale Absage an die Amtskirche dehnte er auf alle Sakramente und Zeremonien aus: alles Heil komme einzig vom inneren Menschen. Heil, Auferstehung, aber auch Verdammnis werden als Vorgänge des inneren Menschen verstanden. Himmel und Hölle als Orte außerhalb der Welt lehnt W. ab. Die Konzentration auf den inneren Glauben und das spiritualistische Kirchenverständnis führen ihn dazu, das landesherrliche Kirchenregiment grundlegend in Frage zu stellen. Der Staat habe kein Recht, den Kirchen und den einzelnen Gläubigen Vorschriften zu machen, denn der Gläubige sei »dem inneren Menschen nach aller Gewalt enthoben, er ist niemand gehorsam noch untertan«. Die Forderungen nach Toleranz und Gewissensfreiheit sind um so höher zu bewerten, als sie in einer Zeit geschrieben wurden, zu der die lutherischen Landeskirchen zusammen mit dem jeweiligen Landesherren versuchten, eine möglichst umfassende Uniformität und Regulierung des Glaubens zu erreichen, indem die Pastoren auf präzise Konkordienformeln vereidigt wurden.
Grundlage dieser radikalen Ablehnung der überkommenen Glaubens- und Kirchenform bildet W.s Erkenntnistheorie. Jedes Erkennen geht von dem erkennenden Subjekt und nicht von dem erkannten Objekt aus. Erkenntnisvermögen und Erkenntnisinhalt sind dem Menschen von Natur aus als »Erbteil« gegeben, die jeweiligen erkannten Objekte können nur gewisse Impulse auslösen, die das erkennende Subjekt zu interpretieren habe. Indem W. das Subjekt in den Mittelpunkt seines Denkens stellte und alle objektiven normativen Wahrheiten, und somit auch die Bibel, als Autorität ablehnte und die Trennung von äußerem und innerem Menschen betonte, konnte er in seinem Dialogus de Christianismo erklären, weshalb er nur dem äußeren Menschen nach ein treuer Anhänger der lutherischen Kirche geblieben sei, innerlich aber davon grundsätzlich abgewichen war. – W.s Schriften wirkten weiter; sie kamen immer dann zur Geltung, wenn, wie etwa im Pietismus, Verinnerlichung und Gewissensfreiheit gegen Dogmen und normativen Glauben verteidigt werden sollten.
Wehr, Gerhard: Alle Weisheit ist von Gott. Gestalten und Wirkungen christlicher Theosophie. Gütersloh 1980. – Wollgast, Siegfried (Hg.): Valentin Weigel. Ausgewählte Werke (ausführliche Einleitung). Stuttgart 1978.
Wolfgang Zimmermann
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