Metzler Philosophen-Lexikon: Weil, Simone
Geb. 3. 2. 1909 in Paris;
gest. 24. 8. 1943 in Ashford/Kent
Kurz vor ihrem Tod notierte W. im Londoner Exil: »Die eigentliche Methode der Philosophie besteht darin, die unlösbaren Probleme in ihrer Unlösbarkeit klar zu erfassen, sie dann zu betrachten, weiter nichts, unverwandt, unermüdlich, Jahre hindurch, ohne jede Hoffnung, im Warten. Nach diesem Kriterium gibt es wenig Philosophen. Wenig ist noch viel gesagt. Der Übergang zum Transzendenten vollzieht sich, wenn die menschlichen Fähigkeiten, Verstand, Wille, menschliche Liebe – an eine Grenze stoßen und der Mensch auf dieser Schwelle verharrt, über die hinaus er keinen Schritt tun kann und dies, ohne sich von ihr abzuwenden, ohne zu wissen, was er begehrt, und angespannt im Warten. Das ist ein Zustand äußerster Demütigung. Unmöglich für jeden, der nicht fähig ist, die Demütigung anzunehmen. Das Genie ist die übernatürliche Kraft der Demut im Bereich des Denkens.«
Sind diese Äußerungen »Ungereimtheiten« oder Ausdruck einer »bleibenden Aporie« (Heinz Robert Schlette) im Leben und Werk W.s? Jedenfalls war W. vieldeutig, manchen galt sie als »rätselhaft«, zahlreiche unterschiedliche Lesarten liegen vor, systematische Einfächerungen fallen schwer, den »einen Schlüssel« für ihre herausfordernde Persönlichkeit und kraftvolle Lebensgeschichte gibt es nicht. Sie kann als eine Zeugin der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesehen werden, welche die vielschichtigen Widersprüche ihrer Lebenszeit gelebt, erlitten und gedacht hat und die ihre Gedanken unter oft widrigen Bedingungen in eigenwilliger, zumeist bruchstückhafter Form niederschrieb.
Unterstützt durch aufgeschlossene Eltern wurden selbstbestimmtes Lernen und Selbstbildung zu den ersten Grundhaltungen der französischen Jüdin. Ihre Ideale: eine klare Moralität, Grenzen ausloten, sich stets für das Schwere zu entscheiden, bildete sie an Märchen und Mythen aus. W. behauptete später, sie sei im christlichen Geist geboren, aufgewachsen und darin geblieben. Dennoch blieb die katholische Kirche als gelebte Institution dem Kind unbekannt. Jüdische Traditionen wurden im Elternhaus nicht mehr gepflegt. Inwieweit ihr geleugnetes Judentum unaufhebbar blieb, ihren unersättlichen Wahrheitshunger oder gar ihr späteres »Unverwurzeltsein« mitbegründet haben mag, muß unbeantwortet bleiben.
Als schwere Belastungen ihrer Jugend benennt W. den Beginn dauerhafter Kopfschmerzen und ihre Verzweiflung darüber, keinen Zugang zum transzendenten Reich zu finden, in dem die Wahrheit wohne. Sie bekannte sich rückblickend zum Atheismus, sie habe niemals Gott gesucht, sondern die beste Haltung gegenüber den Problemen der Welt einnehmen wollen. Ließe sich ihr Atheismus im Sinne der Leugnung eines personalen Gottes und ihr Durst nach dem Absoluten als eine »erste Stufe« des Glaubens und damit als religiöse Grundhaltung deuten?
Als Schülerin Pariser Lyzeen (1919–1928) fiel sie aufgrund politischer Wißbegierden und selbständiger Urteile aber auch wegen nicht angepaßten Auftretens als Mädchen aus der Rolleˆ, wurde von der Lehrerschaft als »überstiegen« beurteilt. Sie fand jedoch im antiinstitutionellen, antidogmatischen und obrigkeitsmißtrauischen Emile Chartier einen Pädagogen, der ihre Entwicklung nachhaltig unterstützte, ihr wissenschaftliches Arbeiten und ihre ersten Veröffentlichungen förderte. Gleichwohl entfernte sich W. bald von seinem gesellschaftlich unverbindlichen Philosophieren, machtvoll gestaltete sie ihr soziales Engagement, näherte sich gewerkschaftlichen Bewegungen, unterrichtete in der Arbeiterbildung und betrat einen Weg, der sie in Auseinandersetzungen mit den Ortenˆ und Normen ihrer sozialen Herkunft brachte.
Mit gleichgesinnten Studierenden an einer Pariser Gymnasiallehrer-Bildungsanstalt (1928–1931) beteiligte sich W. an antimilitaristischen Aktionen, protestierte gegen die existenzbedrohenden Folgen der Weltwirtschaftskrise, den aufkommenden Faschismus, die negativen Entwicklungen in der Sowjetunion. Trotz solcher gemeinsamer Auflehnungen blieb W. eine Außenseiterin im studentischen Milieu, verband sich mit nichtakademischen politischen Gruppen, so mit dem syndikalistischen Flügel der Gewerkschaften und unterrichtete weiterhin unentgeltlich in Arbeiterbildungskursen. Die künftige Gymnasiallehrerin für Philosophie stand den Menschen ihrer außeruniversitären Zusammenhänge näher als denen ihrer Herkunft und Berufsgruppe. Äußerten sich hierin Anzeichen einer sich entwickelnden Lebenshaltung des Sich-eins-Fühlens mit Entrechteten, eine Hingabe an etwas, was nicht »ich« war?
Seit Herbst 1931 unterrichtete W. als Philosophielehrerin Töchter aus bürgerlichen Elternhäusern in französischen Kleinstädten. Als Staatsbeamtin geriet sie in Konflikte mit ihren Tätigkeiten als aktive Gewerkschafterin und politische Publizistin. Obwohl von ihren Schülerinnen geliebt und geschätzt, wurde sie von Eltern abgelehnt, von Kolleginnen ausgegrenzt und von Schulverwaltungen als ständiges Ärgernis angesehen. Mit laufbahnorientierten Maßstäben war ihr Unterricht kaum erfaßbar. Sinngebungen ihrer Pädagogik erblickte sie darin, die Selbstachtung ihrer Schülerinnen zu stärken, Verstand und Urteilsfähigkeit zu schulen, Sensibilität für beunruhigende Gegenwartsprobleme zu entwickeln, Ehrfurcht vor Religiösem zu wecken und von der sinnlichen Wirklichkeit ausgehend zu philosophieren. Von der Bildungsfähigkeit aller Menschen überzeugt, versuchte sie, solche Ziele auch in der Arbeiter- und Volksbildung zu verwirklichen.
Ihre ersten Sommerferien 1932 verbrachte sie in Berlin, um den beunruhigenden Aufstieg der NSDAP, aber auch die Zukunft der deutschen Arbeiterbewegung, auf der ihre Hoffnung ruhte, »vor Ort« erfahren und bewerten zu können. Ihre Eindrücke und Untersuchungen lassen nicht nur hinsichtlich der aufkommenden Hitlerdiktatur, sondern auch in bezug auf die beiden Arbeiterparteien weitreichenden und selbständigen politischen Scharfblick erkennen. Skeptische Grundhaltungen zu politischen Organisationen, zu Institutionen allgemein bilden sich bei W. heraus.
Sie wollte der »Welt der Abstraktionen« entkommen, das »wirkliche Leben« kennenlernen. Trotz der Bedenken politischer Freunde entschloß sie sich, in Pariser Fabriken zu arbeiten (1934–1935). Aus Verbundenheit mit den Ausgebeuteten, aber auch aus wachsendem Mißtrauen gegenüber den großen Worten und Systemkonstruktionen der sozialistischen Theoretiker über die »Befreiung der Arbeiterklasse« ergründete sie Unterdrückung und Entfremdung mit ihrer eigenen körperlichen Sinnlichkeit. In ihrem Fabriktagebuch (1978; La condition ouvrière, 1951) notiert W. alle Einzelheiten, die für die Akkordarbeit einer Arbeiterin in einer metallverarbeitenden Fabrik bedeutsam waren, »Bilder, die tief im Geist, im Herzen, sogar im Fleisch eingegraben sind«. Sie folgerte in geschichtsphilosophischer Bedeutsamkeit: Keinesfalls führe unterdrückende und erschöpfende Fabrikarbeit zur Auflehnung, sondern eher zur Abstumpfung, zum Verlust des Denkens, zur »Fügsamkeit des ergebenen Lasttieres«. Anstelle des Traumes von der proletarischen Revolution trat bei W. eher eine Lebensorientierung, durch Teilhabe an der Lebens- und Arbeitssituation Unterdrückter deren Unglück am eigenen Körper und in der eigenen Seele nachzuempfinden und sich ununterscheidbar mit ihnen verschmolzen zu fühlen. Das Unglück in seiner existentiellen Tiefe zu erkennen, wurde ihr leitendes Thema.
Angesichts der politischen Bedrohungen und Katastrophen bahnten sich in den folgenden Jahren bei W. dynamische innere und äußere Entwicklungen an: Sie erkannte, daß sie angesichts des Spanischen Bürgerkrieges und des von Deutschland ausgehenden Weltkrieges ihren leidenschaftlichen Pazifismus nicht mehr verantworten konnte. Um nicht taten- und gefahrenlos »im Hinterland« zu bleiben, schloß sie sich den internationalen Freiwilligen-Brigaden an. Durch einen banalen Küchenunfall kampfunfähig geworden, erfuhr die Soldatin W., daß die Verführungen, in Kriegen ungestraft Gewalt ausüben zu können, auch vor den eigenen Genossen im »Lager der Gerechtigkeit« nicht Halt machten. Ihre Flucht in das noch unbesetzte Marseille (1940) und das Berufsverbot, das ihrem Jüdischsein galt, klärten kaum ihr Verhältnis zum Judentum wie auch zum Schicksal ihrer jüdischen Mitbürger. Wie sie dem französischen Unterrichtsministerium im November 1940 bekundete, verstand sie sich hellenistischem, christlichem und französischem Erbe zugehörig.
In Südfrankreich arbeitete W. tagsüber als Winzerin und als Landarbeiterin, nachts brachte sie ihre Gedanken zu Papier. Dieses ungeordnete Material übergab sie kurz vor ihrer Ausreise dem befreundeten Sozialphilosophen Gustave Thibon. Seine unter dem Titel Schwerkraft und Gnade (1952; La pesanteur et la grâce, 1974) systematisierte posthume Auswahl – in christlicher Deutung – begründete eine einseitige Rezeptionsgeschichte W.s, die ihrer religiösen Weite kaum gerecht wurde. Gleichwohl kann dieses Werk als religiösphilosophisches Gedankenbuch mit dialogischem Charakter angesehen werden, als ein Dokument, wie sich eine Frau in dunklen Zeiten in der Auseinandersetzung zwischen menschlicher Vernunfteinsicht und der Kraft übernatürlicher Gnade als Denkerin nicht aufgegeben hat. W.s Notizen – heute in den Cahiers (1991–1998) vollständig vorliegend – enthalten bruchstückhafte Zeugnisse aporetischen Denkens im Grenzbereich von Philosophie und Religion, zwei gegenläufige, das Weltall und die menschliche Seele durchherrschende Bewegungen, wobei die Gnade als Widerfahrnis und nicht vom Menschen erzwingbare »Zwischenkunft die Schwerkraft« als quasi naturgesetzliche Notwendigkeit aufheben kann, sofern der Mensch »am Ende seiner menschlichen Fähigkeiten angelangt die Arme ausstrecke, innehalte, schaue und warte«.
Brieflich vertraute sie dem Dominikaterpater Jean-Marie Perrin ihre mystischen Erfahrungen an. Sie beschreibt sie als raum- und zeitsprengende große Freude, die ihr durch das Unglück hindurch widerfuhr, als eine ihr bis dahin unbekannte Form plötzlicher Offenbarung ohne Vermittlung eines menschlichen Wesens. Solche gottunmittelbaren Erfahrungen lassen auf Widerständigkeit gegen den Vermittlungsanspruch von Glaubensautoritäten und -institutionen schließen, auf menschliche Freiheit und Eigenverantwortlichkeit gegenüber jeder Deutungsmacht. Einen »Sprung in die Gewißheit« bedeuteten sie für W. aber wohl kaum, sondern verschärften eher die Aporetik ihres Denkens. Keinesfalls war ihr mystischer Weg ein Rückzug aus der Politik, auch wenn ehemalige politische Weggefährten dies unterstellten und sich verständnislos von ihr abwandten.
In ihren vor oder während ihrer Ausreise verfaßten Briefen an Pater Perrin nehmen religiöse Erörterungen, warum sie nicht in die Kirche eingetreten ist, sondern »auf der Schwelle« verblieb, breiten Raum ein. Ihre spirituelle Unabhängigkeit von der Institution begründet sie auch damit, daß der ihr gemäße Weg, um Christi Gebote zu befolgen und seinen Geist auszustrahlen, der sei, außerhalb der Kirche ohne mögliche Verblendung der Vernunfteinsicht durch kollektive Einflüsse und Gefühle zu bleiben; daß sie sich als eine mit zahlreichen Fragen der Weltreligionen und der Philosophiegeschichte Vertraute an jenem Schnittpunkt der Christentums mit allem, was es nicht ist, aufhalten wolle; und daß sie schließlich aufgrund des ausgrenzenden Umgangs der Kirche mit Andersdenkenden und mit menschlicher Vernunft auf seiten jener gehöre, die dort keine Aufnahme fänden.
In ihrem Essay Das Unglück und die Gottesliebe versuchte W., im Bewußtsein nicht aufhebbarer Aporie menschliches Unglück zu ergründen: »Das Warum des Unglücklichen läßt keine Antwort zu, weil wir in der Notwendigkeit leben und nicht in der Zweckhaftigkeit. Wenn diese Welt einen Zweck in sich selbst hätte, dann wäre die andere Welt nicht der Ort des Guten. Jedesmal wenn wir die Welt nach ihrem Zweck fragen, verweigert sie die Antwort. Aber um zu wissen, daß sie die Antwort verweigert, muß man die Frage stellen Wer fähig ist, nicht nur zu schreien sondern auch zu horchen, vernimmt die Antwort. Diese Antwort ist Schweigen. Dieses ewige Schweigen Die Geschöpfe reden mit Lauten. Das Wort Gottes ist Schweigen. Das heimliche Liebewort Gottes kann nichts anderes als das Schweigen sein. Christus ist das Schweigen Gottes.«
W. gelang es, auf dem Weg über die USA im November 1942 nach London auszureisen. Sie hoffte, von hier in den besetzten Teil Frankreichs zurückkehren und bei der Résistance eine praktische Aufgabe übernehmen zu können. Vorgesehen aber war für sie nur eine Bürotätigkeit, die i.w.S. der Organisation des künftigen Friedens galt: »Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte für das Nachkriegsfrankreich«. Diese intellektuelle Aufgabe genügte ihr nicht. W. sagte von sich, der einzige Platz, an dem ein Geist wie der ihre von Ideen übersprudeln könne, bestehe im tätigen Kontakt mit der Wirklichkeit. Sie sollte ihn nicht mehr finden. Gleichwohl setzte sie sich pflichtbewußt für die ihr zugewiesene Kommissionsarbeit ein und verfaßte als persönliche Ergänzung dazu eine Schrift mit dem Titel: »Die Einwurzelung – Einführung in die Pflichten dem menschlichen Wesen gegenüber«. Diese letzten Aufzeichnungen der Unbeheimateten orientieren sich auf einen universellen Humanismus. Eine ihrer Kernaussagen lautet: »Verbrecherisch ist alles, was ein menschliches Wesen entwurzelt oder es verhindert, Wurzel zu fassen.«
Im Frühjahr 1943 brach W. zusammen. Einer ihrer letzten Gesprächspartner, ein Priester, beschrieb seine widersprüchlichen Eindrücke von der Sterbenden: Ihr Denken habe keinen festen Standort erkennen lassen. Verwirrt habe ihn die Dualität zwischen wunderbar demütiger Einfachheit und einem räsonierenden Verstand. W.s Tod wurde in einer der lokalen Zeitungen als freiwilliger Hungertod einer französischen Philosophieprofessorin kommentiert. W., die versuchte, die unauflösbaren, vielschichtigen Widersprüche ihrer Zeit zu leben und bis an die Grenzen des philosophisch Erkennbaren zu denken, und die, »angespannt im Warten«, ihren Geist bis zuletzt »in der Schwebe« hielt, kann als eine unverwechselbare Stimme im Chor jener vernommen werden, die zwar durch die Katastrophen des Zweiten Weltkrieges zerstört wurden, die aber dennoch Unzerstörbares hinterließen. Daß sie zum eigenen Jüdischsein und zum Unglück ihrer jüdischen Mitmenschen keine Beziehung mehr fand, bleibt als ein bedeutsamer Widerspruch bestehen.
Rohr, Barbara: Verwurzelt im Ortlosen. Einblicke in Leben und Werk von Simone Weil. Münster 2000. – Schlette, Heinz Robert: Mit der Aporie leben. Frankfurt am Main 1997. – Wicki-Vogt, Maja: Jüdisches Denken in geleugneter Tradition. In: Schlette, Heinz Robert/Devaux, André (Hg.): Simone Weil. Philosophie. Religion. Politik. Frankfurt am Main 1985. – Krogmann, Angelika: Simone Weil in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1970. – Cabaud, Jacques: Simone Weil. Die Logik der Liebe. Freiburg/München 1968.
Barbara Rohr
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