Metzler Philosophen-Lexikon: Whitehead, Alfred North
Geb. 15. 2. 1861 in Ramsgate (England);
gest. 30. 12. 1947 in Cambridge/Mass.
W. wird zusammen mit Bertrand Russell durch die Veröffentlichung der Principia Mathematica (1910–1913) berühmt. Der junge Russell war W. aufgefallen, als er ihn wegen der Vergabe eines Stipendiums prüfen mußte. Russell erwies sich schnell als sein begabtester Schüler und wurde zum ebenbürtigen Mitarbeiter. W., Sohn eines anglikanischen Pastors, hatte in Cambridge Mathematik studiert und war seit 1884 Fellow des Trinity College. Seine weitgespannten Interessen richteten sich neben der Mathematik besonders auf die Physik und die Theologie, mit der er sich unter dem Einfluß von John Henry Newman intensiv auseinandersetzt. Seit 1914 auf dem Lehrstuhl für angewandte Physik in South Kensington, wechselt er 1924 nach Cambridge/Mass. über und lehrt in Harvard Philosophie. W.s abstraktes, durch die Mathematik geprägtes Denken und seine durch die Physik vermittelte empirische Kenntnis der Natur werden in seiner Philosophie auf charakteristische Weise fruchtbar. Für W. ist jede abstrahierende Begriffsbildung ein Versuch, in der ungeheuren Komplexität der Wirklichkeit konkrete Tatsachen auszumachen. Diese Fähigkeit, Tatsachen festzustellen, ist jedoch kein Privileg der Naturwissenschaften, wie ein realitätsblinder Positivismus vermeint: »Die Dogmen der Religion sind Ansätze, die in der religiösen Erfahrung der Menschheit enthüllten Wahrheiten präzise zu formulieren. Auf genau dieselbe Weise sind die Dogmen der Physik Versuche, die in der Sinneswahrnehmung der Menschheit freigelegten Wahrheiten präzise zu formulieren«, schreibt er 1926 in Religion in the Making (Wie entsteht Religion?). Ebensowenig wie den Positivismus kann W. die Philosophie Kants akzeptieren, insoweit sie die objektive Welt als bloßes Konstrukt aus subjektiver Erfahrung betrachtet. Kants Staunen angesichts der nächtlichen Sternenpracht kommentiert W. als »Triumph des Offensichtlichen über den philosophischen Standpunkt«.
Die Wirklichkeit des menschlichen Erlebens, die entschieden mehr ist als dürre »Sinneswahrnehmung«, liegt der Vernunft voraus und gibt ihr ihre Aufgabe: »Die Funktion der Vernunft besteht darin, daß sie die Kunst zu leben fördert« (The Function of Reason, 1929; Die Funktion der Vernunft). Ungeachtet der von W. geforderten pragmatischen Ausrichtung der Philosophie und seinem Rückgriff auf das »Offensichtliche« gilt W.s Hauptwerk Process and Reality. An Essay in Cosmology (1929; Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie) sprachlich und inhaltlich als äußerst schwierig. Der Untertitel betont W.s umfassenden Anspruch. Er entwickelt ein Kategoriensystem, das es erlauben soll, die Einzelphänomene der Wirklichkeit im Gesamtzusammenhang der Natur zu interpretieren. Zentrale Kategorie seiner Kosmologie ist der Begriff »Prozeß«, der an die Stelle der »Substanz« in der herkömmlichen Philosophie tritt. W. denkt die Welt aus genau umgrenzten Einzelwirklichkeiten aufgebaut, die er »wirkliche Einzelwesen« nennt. Anders als bei Leibniz’ Monaden stehen diese »Einzelwesen« aber in den unterschiedlichsten, sich gegenseitig beeinflussenden Relationen zueinander und stellen im Prozeß der Realität immer neue und nicht vorhersehbare Beziehungen untereinander her. Gott hat nicht, wie bei Leibniz, die Aufgabe, eine vorgegebene Ordnung zu garantieren, sondern stiftet Unruhe im Universum. Um den Preis der Disharmonie stachelt er die Schöpfung zu höheren Formen der Selbstverwirklichung und damit zu neuartigen Konstellationen von Einzelwesen an. Dabei kommt abstrakten Mustern, Formen und Begriffen eine wichtige Rolle zu. W. versteht jede Idee als »eine Prophezeiung, die an ihrer eigenen Erfüllung arbeitet«. In den 1933 entstandenen Adventures of Ideas (Abenteuer der Ideen) zeigt er am Beispiel der europäischen Geschichte, die durch die Entwürfe Platons und Aristoteles’ geprägt ist, die Wirksamkeit von Ideen. Weil »Begriffe« es ermöglichen, Zusammenhänge herzustellen und neue Wirklichkeiten zu denken, können sie zu Orientierungspunkten werden. Menschen handeln unter Bezug auf sie und verkörpern so neue Perspektiven im Prozeß der Geschichte.
W. ist sich in seinem komplexen philosophischen System jedoch immer der Unschärfe des Begrifflichen und der Prozeßhaftigkeit und Unabgeschlossenheit seiner eigenen Philosophie bewußt. Auch Begriffe sind in ihrer unterschiedlichen Zugriffsmacht auf die Wirklichkeit in Prozesse verwickelt und können Wirklichkeit niemals vollständig erfassen: »Lamm-fressender-Wolf als Universalie, die das Absolute qualifiziert – ist eine Verhöhnung des Offenkundigen. Dieser Wolf frißt dieses Lamm an diesem Ort und zu dieser Zeit: der Wolf wußte es, das Lamm wußte es; und die Aasgeier wußten es.« W.s Werk erweist sich, nicht zuletzt weil es sich der Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften im Ansatz verweigert, immer mehr als anregender Bezugspunkt der unterschiedlichsten Disziplinen, von der Theologie über die Physik bis hin zur Biologie und Ökologie. Seit W.s Werke in deutschen Übersetzungen zugänglich werden (Abenteuer der Ideen, 1971; Prozeß und Realität, 1979; Wie entsteht Religion, 1985; Kulturelle Symbolisierung, 2000; Denkweisen, 2001) gewinnt W.s Denken auch in Deutschland zunehmend an Wirksamkeit. Es enthält im Überfluß das, was nach W. das menschliche Denken und Handeln weiterbringt: »Metaphern, die stumm auf ein Überspringen der Phantasie warten.«
Rohmer, Stascha: Whiteheads Synthese von Kreativität und Rationalität. Freiburg 2000. – Hampe, Michael: Alfred North Whitehead. München 1998. – Hauskeller, Michael: Alfred North Whitehead zur Einführung. Hamburg 1994. – Holzhey, Helmut u.a. (Hg.): Natur, Subjektivität, Gott. Zur Prozeßphilosophie Alfred N. Whiteheads. Frankfurt am Main 1990. – Wolf-Gazo, Ernest (Hg.): Whitehead. Einführung in seine Kosmologie. Freiburg/München 1980. – Cobb, John/Griffin, David R.: Prozeßtheologie. Eine einführende Darstellung. Göttingen 1979.
Matthias Wörther
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