Metzler Philosophen-Lexikon: Windelband, Wilhelm
Geb. 11. 5. 1848 in Potsdam;
gest. 22. 10. 1915 in Heidelberg
Anfangs studierte W. an den Universitäten Jena, Berlin und Göttingen Medizin und Naturwissenschaft und später Geschichte und Philosophie. Philosophisch gleichermaßen durch Kuno Fischer und Hermann Lotze beeinflußt promovierte er bei letzterem 1870 mit einer Arbeit über Die Lehren vom Zufall. Nachdem er sich 1873 in Leipzig habilitiert hatte, erhielt er 1876 einen Lehrstuhl in Zürich, und folgte bereits ein Jahr später einem Ruf nach Freiburg im Breisgau. W.s erste größere Veröffentlichung ist die Geschichte der neueren Philosophie im Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften, deren erster Band 1878 erschien. Seine fruchtbarste Zeit waren seine Straßburger Jahre von 1882 bis 1903. Aus dieser Zeit stammen nicht nur die Präludien (1884), eine Sammlung philosophischer Essays, sondern auch das erstmals 1892 erschienene und später von Heinz Heimsoeth weitergeführte Lehrbuch der Geschichte der Philosophie.
1903 wurde W. als Nachfolger Kuno Fischers nach Heidelberg berufen und wirkte dort bis zu seinem Tod. Charakteristisch für seine Heidelberger Zeit sind einige stärker systematisch ausgerichtete Arbeiten wie die Prinzipien der Logik (1912) und vor allem seine Einleitung in die Philosophie (1914). Wenn W. seinen eigenen systematischen Ansatz im Gegensatz zu Heinrich Rickert auch lediglich skizziert hat, so war dieser gleichwohl prägend für die Theorieentwicklung des südwestdeutschen Neukantianismus, denn zentrale Bestandstücke des axiologischen Kritizismus sind bei ihm bereits vorhanden. So findet sich hier bereits die Unterscheidung zwischen theoretischen Problemen (Seinsfragen) und axiologischen Problemen (Wertfragen). Trotz der gleichen grammatischen Form besteht zwischen beiden für W. ein logischer Unterschied. Im Fall des theoretischen Urteils beziehen wir nämlich Prädikate auf ein Subjekt, und das Bewußtsein nimmt zu dem in dieser Weise aufeinander Bezogenen eine theoretische Haltung ein. Im Fall der Beurteilung haben wir es dagegen mit einer wertenden Stellungnahme zu tun, für die nicht nur kognitive, sondern auch emotionale und als solche gewollte Gesichtspunkte bedeutsam sind. Was den Wertbegriff angeht, verwirft W. einen reinen Wertobjektivismus, die Objektivität des Wertens ist ihm zufolge nur dadurch zu gewährleisten, daß man auf ein wertendes Normalbewußtsein rekurriert, das im Gegensatz zum empirischen Allgemeinbewußtsein eine transzendentale Größe des Kantischen Bewußtseins überhauptˆ ist. Die traditionelle Disziplineneinteilung der Philosophie in Logik, Ethik und Ästhetik läßt sich nach W. werttheoretisch begründen. Denn diese Disziplinen orientieren sich an den Werten des Wahren, Guten und Schönen. Auch die Religionsphilosophie hat in diesem Philosophiekonzept ihren Ort. Das Heilige verkörpert zwar keine besondere Wertklasse wie das Wahre, Gute und Schöne, aber es verkörpert »alle diese Werte« in ihrer »Beziehung zu einer übersinnlichen Wirklichkeit«.
Wirkungsgeschichtlich von großer Bedeutung waren W.s Überlegungen zu einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Geschichtswissenschaft, denn die Unterscheidungen, die er in diesem Zusammenhang entwickelte, haben »jahrzehntelang die Diskussion über Natur- und Geisteswissenschaften bestimmt« (Hans-Georg Gadamer). Die Naturwissenschaften operieren, wie W. deutlich macht, mit generellen, apodiktischen Urteilen. Sie haben das Allgemeine im Visier, und ihr Interesse gilt der gleichbleibenden Form des Wirklichen. Ihr Erkenntnisziel ist die Einsicht in Gesetzeszusammenhänge; sie verfahren also nomothetisch, wobei bei ihnen die Neigung zur Abstraktion überwiegt. Demgegenüber operieren die historischen Wissenschaften mit singulären, assertorischen Urteilen. Sie haben das Besondere im Visier, denn ihr Interesse gilt dem einmaligen, in sich bestimmten Inhalt des Wirklichen. Ihr Erkenntnisziel ist die Erfassung von Gestalten, wobei sie hier idiographisch verfahren, und die Neigung zur Anschaulichkeit überwiegt.
Wesentlich für W.s philosophiehistorische Arbeiten ist, daß bei ihm nicht philosophische Denkerpersönlichkeiten im Vordergrund stehen, obwohl deren Darstellung, wie er ausdrücklich betont, nicht ohne Reiz ist, sondern die Geschichte der Probleme und Begriffe; seine Vorgehensweise ist also eine problemgeschichtliche. Sowohl bei der Aufstellung der Probleme wie auch bei den Versuchen ihrer begrifflichen Lösung, können mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Die Problembearbeitung kann sich aus sachlichen Notwendigkeiten ergeben, aber auch kulturgeschichtliche Prozesse wie die Entwicklung der Einzelwissenschaften können hierfür ausschlaggebend sein. Schließlich spielt in die Auswahl und Verknüpfung der Probleme immer auch die individuelle Denkerpersönlichkeit des jeweiligen Philosophen hinein. Demzufolge hat die philosophiegeschichtliche Forschung nach W. eine dreifache Aufgabe zu erfüllen. Sie hat »1. genau festzustellen, was sich über die Lebensumstände, die geistige Entwicklung und die Lehren der einzelnen Philosophen aus den Quellen erheben läßt, 2. aus diesen Tatbeständen den genetischen Prozeß in der Weise zu rekonstruieren, daß bei jedem Philosophen die Abhängigkeit seiner Lehren teils von denjenigen seiner Vorgänger, teils von den allgemeinen Zeitideen, teils von seiner eigenen Natur und seinem Bildungsgang begreiflich wird; 3. aus der Betrachtung des Ganzen heraus zu beurteilen, welchen Wert die die dort festgestellten und ihrem Ursprung nach erklärten Lehren in Rücksicht auf den Gesamtertrag der Philosophie haben.«
Fellmann, Ferdinand: Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert. Hamburg 1996. – Orth, Ernst W./Holzhey, Helmut: Neukantianismus. Perspektiven und Probleme. Würzburg 1994. – Rickert, Heinrich: Wilhelm Windelband. Tübingen 1915.
Hans-Ludwig Ollig
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