Metzler Philosophen-Lexikon: Xenophanes
Geb. um 570 v. Chr. in Kolophon;
gest. um 475/70 v. Chr. vermutl. in Sizilien
Geboren und aufgewachsen in Ionien, geht X. nach der Eroberung seiner Heimatstadt Kolophon durch die Meder (546/45) als junger Mann in den Westen – wie später sein Altersgenosse Pythagoras. Nach eigenem Zeugnis durchwandert er von nun an fast ein Dreivierteljahrhundert lang das hellenische Süditalien, vor allem aber die Städte der sizilischen Ostküste, und trägt als Gast aristokratischer Häuser seine Dichtungen vor. Zwei Themen vor allem beschäftigen ihn: die Erkenntnistheorie und die noch zentralere Theologie. Wenn einer der Vorsokratiker, so verdient X. den Namen Theologe. Das traditionelle anthropomorphe Gottesbild der Griechen lehnt er ab. Es ist ethisch verwerflich, vor allem aber erkenntnistheoretisch unhaltbar. Den Anthropomorphismus erschüttert er mit einem Argument von revolutionärer Konsequenz: »Äthiopier sagen, ihre Götter seien breitnasig und schwarz, Thraker, (sie seien) blauäugig und rothaarig.« Die Beobachtung solcher Unterschiede in den Vorstellungen verschiedener Völker markiert nicht allein den Beginn jener anthropologischen Methode, der im 5. Jahrhundert eine ganze Literatur gelten wird (Herodot), sondern verweist vor allem auf die Subjektivität und damit Wertlosigkeit theologischer Aussagen, die von anthropologischen Prämissen ausgehen. Wie jedes Volk seine Götter mit den eigenen ethnischen Merkmalen ausstattet, so schreibt jeder Anthropomorphismus dem Göttlichen insgesamt menschliche Qualitäten zu. Die Relativität des griechischen traditionellen Götterbildes macht seinen Unwert aus.
X.’ Antwort auf dieses Problem liegt in der radikalen Distanzierung von jedem Anthropomorphismus. »Ein Gott (oder: Gott ist eins), unter Göttern und Menschen der größte, auf keine Art Sterblichen ähnlich, weder an Körper noch Geist.« »Als ein Ganzes sieht er, als ein Ganzes denkt er, als ein Ganzes hört er.« »Immer bleibt er am selben (Ort), ganz bewegungslos, und nicht gehört es sich (für ihn), bald hierhin, bald dorthin zu gehen. Doch ohne Mühe erschüttert er alles durch das Wollen seines Geistes.« X.’ Theologie läßt sich in sieben Dogmen umreißen: (1) Es gibt nur einen Gott. (Die Alternative »Gott ist eins« wird noch zu diskutieren sein.) Wie konsequent X. diesen Monotheismus durchgeführt hat, läßt sich kaum beantworten. (2) Gott ist nicht anthropomorph. Er besitzt einen Körper, doch keinen menschlichen (»auf keine Art Sterblichen ähnlich an Körper«). (3) Er ist bewegungslos: Bewegung ist für ihn nicht notwendig – (4) er bewegt und verändert die Welt allein durch sein Denken und Wollen, das gründet in (5) seiner integralen Wahrnehmung und Reflexion. Hier ist Aristoteles’ »unbewegter Beweger« im Keim angelegt. (6) Gott ist »ungeboren«, ist ewig; (7) Gott ist moralisch vollkommen. Die mögliche Übersetzung »Gott ist eins«, und eine Überlieferung des Aristoteles – »die Welt insgesamt ins Auge fassend, sagt er (X.), das Eine sei der Gott« – werfen die Frage auf, ob X. Gott in einem umfassenden Sinn als das Eine, als dem Kosmos zugrundeliegende Einheit, ja als mit dem Kosmos identisch betrachtet. X.’ Gott besitzt Züge der milesischen Vorstellung einer göttlichen »archḗ», einem Einen, das die Welt erzeugt und durchdringt. Doch hat X. die Vorstellung einer Schaffung der Welt aus diesem Einen offenkundig aufgegeben – die Welt ist ungeschaffen. Er scheint als erster die Theorie einer immer existenten Welt formuliert zu haben. Die Welt ist also nicht mehr Produkt des Einen, wie bei den Milesiern, sie ist das Eine. »Archḗ» und Welt sind identisch: Gott bildet die Welt – der Kosmos ist Gott. Trifft diese Deutung zu, so entwirft X. die Vorstellung eines ewigen göttlichen Weltganzen. Dieser Pantheismus erfaßt die Realität als das Eine, und gibt so der Vorstellung von der Einheit einen neuen, absoluteren Sinn. Diese Deutung vor Augen, erheben Platon und Aristoteles X. zum geistigen Vater der Eleaten.
In seiner Erkenntnistheorie zeigt sich X. als Skeptiker: »Das Sichere sah kein Mensch, und keiner wird wissen über Götter und über alles, was ich sage. Auch wenn jemand zufällig ganz Wahres sagen sollte – er selbst weiß es nicht: In allem ist Meinung (oder: Glaube).« Niemand verfügt über sicheres Wissen. Nicht jede Form von Erkenntnis wird damit negiert – die unmittelbare positivistische Beobachtung scheint nicht in Frage gestellt –, sondern Erkenntnis »über Götter und über alles, was ich sage«. Die Dinge jenseits unserer eingeschränkten unmittelbaren Wahrnehmung, die Natur und das Göttliche, liegen auch jenseits eines gesicherten Wissens. Im Bereich der Theorie sind wir angewiesen auf Vermutungen und Schlußfolgerungen. Die in der Weiterentwicklung der griechischen Philosophie fundamentale Antithese von Wahrheit (»das Sichere«) und Schein (»Meinung«), die latent schon bei den Milesiern angelegt ist – hinter der Pluralität der Erscheinungen liegt die sie begründende Natur –, tritt bei X. zum ersten Mal ausdrücklich in Erscheinung. Doch auch wenn die Wahrheit unzugänglich bleibt – es gibt ein Kriterium für den Wert unserer Theorien. X. ist kein radikaler Skeptiker; er argumentiert zugunsten des (von ihm offenkundig zum ersten Mal definierten) Wahrscheinlichen. Wie seine Kritik des traditionellen Gottesbildes belegt, vertritt er entschieden – auch wenn er keinen Wahrheitsbeweis antreten kann – seine auf ihr basierenden Schlußfolgerungen, die in sein neues Gottesbild münden: »Diese (Dinge) sollen geglaubt werden als der Wahrheit ähnelnde.« Vom Optimismus seiner Erkenntnistheorie zeugt ein anderes Fragment. »Nicht vom Anfang an haben (die) Götter alles den Menschen offenbart, sondern mit der Zeit, als Suchende, finden sie (es) besser heraus.« X.’ Sicht der Erkenntnis als menschlicher Leistung, als Ergebnis von »Suche«, d.h. wissenschaftlicher Anstrengung, die abhängig ist nicht mehr von göttlicher Offenbarung, sondern vom Faktor Zeit, bedeutet die Abkehr von jener alten Vorstellung einer goldenen Urzeit, deren Güter und Erkenntnisse im Lauf der Zeit mehr und mehr verloren gehen. Sie macht dieses Fragment zur ersten Formulierung des Fortschrittsgedankens in der erhaltenen griechischen Literatur.
Ophuijsen, Johannes M. van: Art. »Xenophanes«. In:
Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996ff., Bd. 12,2, Sp. 627–632. – Guthrie, W. K. C.: A History of Greek Philosophy, Bd. I. Cambridge 1962, S. 360–402.
Peter Habermehl
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