Metzler Lexikon Philosophie: Abduktion
(engl. abduction, von lat. abductio: Wegführung). Ch. S. Peirce veröffentlichte erstmals 1867 den von ihm entdeckten syllogistischen Schlussmodus, den er ursprünglich als engl. »hypothesis« bezeichnete. Dementsprechend konnte er die Gesamtheit aller Schlüsse als deduktiv oder analytisch bzw. als synthetisch klassifizieren. Zu Letzterem zählte Peirce Induktion und Hypothese/A., wobei er glaubte, dasselbe zu meinen wie Aristoteles (an. pr. II, 25, 69a). Im Zuge der Weiterentwicklung seiner Theorie des logischen Schließens prägte er zwischenzeitlich den Namen »Retroduktion« (Collected Papers 1.68), bevor – aufgrund von Strittigkeiten bei der Datierung seiner Manuskripte – wahrscheinlich ab ca. 1898 von »A.« (Riemer, 1988, 36 f.) gesprochen werden kann. A. bedient sich zwar der Hypothese, schließt freilich nur (»von der Wirkung auf die Ursache« (Collected Papers 2.636), »von Fakten einer Art auf Fakten anderer Art« (Collected Papers 2.642)) mit Wahrscheinlichkeit. Daher haben die durch diesen Schlussmodus gewonnenen Hypothesen stets nur provisorischen Charakter, gelten weder als wahr noch als wahrscheinlich, sondern sind aufgrund unseres Vorwissens bloße Annahmen (»nothing but guessing«; Collected Papers 7.219) in einer bestimmten Situation und müssen folglich kontinuierlich weiter überprüft werden (Collected Papers 1.67 f., 1.81, 1.120 ff.). Das Verfahren der A. selbst garantiert dabei nicht die Richtigkeit der dadurch erzielten Resultate, sondern bietet aufgrund des in den jeweiligen inhaltlichen Aussagen innewohnenden Neuigkeitswertes (Collected Papers 5.181) potentielle Erklärungsmöglichkeiten für die Ausgangsfragestellung. Gültigkeit erhält die durch A. ermittelte Hypothese, wenn sie »zusammen mit den entsprechenden Antecedensbedingungen tatsächlich eine potentielle Erklärung« darstellen kann (Collected Papers 6.469; Riemer, 1988, S. 140). Hier muss das Verfahren im Zusammenhang mit der Peirce’schen Idee des Forschungsprozesses »in the long run« (Oehler, 1993, S. 120 ff.) auf der Basis einer prinzipiell unendlichen Forschergemeinschaft gesehen werden, denn: A. eröffnet zwar für das individuell forschende Subjekt wissenschaftlichen Fortschritt, dessen möglicherweise innovativ-erklärenden Schlüsse müssen sich jedoch in der Gemeinschaft der Wissenschaftler durch Nachprüfung und Diskussion erst als realiter fruchtbar erweisen. In jedem Fall beinhaltet A. die wissenschaftstheoretische Funktion, neue Hypothesen zu entdecken, zu formulieren und so erkenntniserweiternd zu wirken. Demzufolge gehört sie nach Peirce zur »logic of discovery« und ist Bestandteil jeder wissenschaftlichen Hypothesenbildung. Ein einfaches Beispiel aus den Frühschriften von Peirce (Collected Papers 2.623) verdeutlicht rudimentär die Zusammenhänge:
DEDUKTION.
Regel. – Alle Bohnen aus diesem Sack sind weiß.
Fall. – Diese Bohnen sind aus diesem Sack.
∴ Resultat. – Diese Bohnen sind weiß.
INDUKTION.
Fall. – Diese Bohnen sind aus diesem Sack.
Resultat. – Diese Bohnen sind weiß.
∴ Regel. – Alle Bohnen aus diesem Sack sind weiß.
HYPOTHESE (Abduktion).
Regel. – Alle Bohnen aus diesem Sack sind weiß.
Resultat. – Diese Bohnen sind weiß.
∴ Fall. – Diese Bohnen sind aus diesem Sack.
Literatur:
- K. Oehler: Charles Sanders Peirce. München 1993
- H. Pape: Erfahrung und Wirklichkeit als Zeichenprozeß. Frankfurt 1989
- Ch. S. Peirce: Collected Papers. Vol. I-VI. Hg. v. C. Hartshorne/P. Weiß. Cambridge Mass. 1931 ff., 21960. Vol. VII-VIII. Hg. v. A. W. Burks. Cambridge Mass. 1958. insb. 2.461–516, 2.619–644, 2.694–751
- I. Riemer: Konzeption und Begründung der Induktion. Würzburg 1988.
JK
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