Metzler Lexikon Philosophie: Aisthesis
(griech. Sinneswahrnehmung). Die Bedeutung dieses Begriffs für die griech. Philosophie bringt der berühmte erste Satz von Aristoteles’ Metaphysik zum Ausdruck: »Alle Menschen streben nach Wissen; dies beweist die Freude an den Sinneswahrnehmungen«: Die Sinneswahrnehmungen werden primär unter dem Aspekt erforscht, wie sie sich zur Erkenntnis und dem Wissen verhalten.
I. Platon: (1) Der Bereich der Wahrnehmungen: Zu den Wahrnehmungen zählt Platon im Theaitet u.a. Gesicht, Gehör, Geruch, Erwärmung und Erkältung, aber auch Lust und Unlust, Begierden und Abscheu (156 a ff.). Alle Wahrnehmungen kommen »vermittels« der Sinnesorgane zustande, denen spezifische wahrnehmbare Gegenstände gegenüberstehen, dem Sehen etwa die Farbe, die ihrerseits »determinierbar« ist, also viele Unterschiede in sich enthält; dem Tastsinn das Berührbare, das sich nach hart und weich, kalt und warm, schwer und leicht, rauh und glatt usw. unterscheidet. (2) Die Entstehung der Wahrnehmung: Im Theaitet (156 a 1 ff.) entwickelt Platon eine Theorie der Entstehung von sinnlichen Wahrnehmungen, die Sokrates zwar als Geheimlehre ungenannter Protagorasschüler ausgibt, die aber zweifellos Platons eigene ist, da er sie im Timaios (61 c ff.) wiederholt: Was wir unser Auge nennen und was wir die äußere Welt nennen, sind in Wahrheit nur zwei Arten von Prozessen, Bewegungen: Wenn sie miteinander in Berührung kommen, »wird« etwas und dieses etwas ist die Farbe, die deshalb weder in uns noch außer uns ist, sondern das gemeinsame Produkt der beiden Faktoren, der Bewegung also, die außerhalb des Organismus stattfindet, und der Bewegung, die das Auge ist. Dieses gemeinsame Produkt ist selber wiederum ein Prozess, der in stetiger Veränderung begriffen ist. Dies erklärt einerseits, wieso jeder von uns in einer privaten Welt der Sinneswahrnehmungen lebt; andrerseits, warum jede Veränderung des einen der beiden Faktoren eine Veränderung des Gesamtprodukts zur Folge hat. Die wahrgenommene Welt ist eine Funktion zweier Variablen; so sehen ein gesunder und ein kranker Mensch ebenso jeweils etwas anderes wie auch ein Mensch und ein Hund; ebenso hat aber auch die Veränderung der Beleuchtung die Veränderung der gesehenen Farbe zur Folge. (3) Wahrnehmung ist kein Wissen: Diese Bezogenheit der Wahrnehmungen auf die Wahrnehmungsorgane macht also die wahrgenommenen Objekte zu sich wandelnden Prozessen und die Wahrnehmung zu einem steten, sich verändernden Prozess. Damit kann aber weder die Wahrnehmung Wissen noch das Wahrgenommene etwas Gewusstes, Erkanntes sein. Wenn die Theorie der absoluten Flüssigkeit (Theaitet 182 c 4 ff.) wahr ist, können eigentlich nur Aussagen von der Art »So nicht« (183 b 5) gemacht werden, da sowohl der Prozess des Sehens in Veränderung begriffen ist, wie das Objekt. Widerspricht schon dieses Ergebnis dem Begriff des Wissens, so noch mehr die Tatsache, dass wir kein Objekt als etwas bestimmen können, ohne Begriffe wie Sein, Gleichheit, Verschiedenheit usw. zu verwenden. Aber das sind Eigenschaften oder Relationen, die das Resultat von Reflexion, Vergleich und Unterscheidung sind. Also können wir die Sinnesorgane nur als Werkzeuge ansehen, »vermittels« derer wir etwas in der »Seele« tun. Damit ist der Anspruch, dass Sinneswahrnehmung Wissen sei, abgewiesen. (4) Die Rolle der Wahrnehmung im Erkenntnisprozess: Dass die Objekte sich grundsätzlich in die beiden Klassen der sinnlich Wahrnehmbaren und der Denkbaren einteilen lassen, durchzieht Platons Lehre vom Phaidon über den Staat bis zum Timaios. So kommt den aistheta eine ganz besondere Rolle im Erkenntnisprozess zu. Platon unterscheidet zwei Arten von Sinneswahrnehmung, solche, die das Denken anregen und solche, die es nicht tun (Staat 523 a; 524 b ff). Wahrnehmungen, die nicht zum Nachdenken anregen, sind die, die nicht zugleich entgegengesetzte Eindrücke hervorrufen, während umgekehrt die Erfahrung, dass ein und dasselbe Ding als groß und klein, hart und weich usw. erscheint, den Erkenntnisprozess anregt. Die Bedeutung der Mathematik erklärt sich gerade daraus, dass hier systematisch die sinnlichen Wahrnehmungen nur zum Ausgangspunkt der Erkenntnis genommen werden, nicht aber als solche Gegenstände des Wissens sind.
II. Aristoteles’ Theorie der Wahrnehmung: Nach De anima sprechen wir einem Wesen Leben zu, wenn es folgende Eigenschaften besitzt: Vernunft, Wahrnehmung, Bewegung und Stillstand am Ort, Bewegung in der Ernährung, und Hinschwinden und Wachstum (II, 2). Aristoteles diskutiert die Sinneswahrnehmung in II, 5 – III, 2. – (1) Die Gleichheit von Wahrnehmung und ihrem Objekt: Wahrnehmung ist eine Fähigkeit, die potentiell im Organismus existiert, bis sie durch irgendein sinnlich wahrnehmbares Objekt, ein aistheton, in der Umgebung des Organismus verwirklicht wird. Dann wird die Wahrnehmung, die als das Funktionieren des Sinnesorgans begriffen wird, »wie« das Sinnesobjekt, ihm gleich. Die Sinnesqualität, die das Objekt potentiell besitzt, wird in dem Wahrnehmen des Sinnesorgans wirklich. Z.B.: Die Wand ist potentiell weiß, die Sehkraft kann mittels der Augen Weiße sehen; wir sehen nicht in, sondern mit den Augen. Im Prozess der Wahrnehmung gibt es eine Kooperation dieser beiden Kräfte, in der die Fähigkeit der Wand, als weiß gesehen zu werden und die Fähigkeit der Augen, die Weiße zu sehen, erfüllt werden. Die potentielle Weiße der Wand und die potentielle Weiße der Sicht werden in einem einzigen Prozess, Die-weiße-Wand-Sehen, verwirklicht. Die wirkliche Farbe hat ihren Ort im Auge, nicht in der Wand, d.h. in der Kooperation der beiden Fähigkeiten. Aber die Farbe des Objekts und die Farbe im Sehen des Auges sind einunddieselbe Farbe. Deshalb ist Sehen ein Leiden, im Wesentlichen passiv, eine alloiosis, es bedarf eines Objektes, um in Gang zu kommen – im Ggs. zum Denken, das eine aktive Tätigkeit ist. Es gibt aber zwei Arten von Veränderung, manchmal ist sie eine Art Vernichtung durch das Entgegengesetzte, das andere Mal eher »Erweckung des der Möglichkeit nach Bestehenden durch das, was der Erfüllung nach da ist, und ihm in dem Sinne gleich, wie Möglichkeit zu Erfüllung steht«. Die Wahrnehmung ist eine qualitative Veränderung in diesem zweiten Sinne; sie ist die Verwirklichung einer Fähigkeit. Infolgedessen ist Wahrnehmen ein dem wahrgenommenen Objekt Gleichwerden. »Deshalb leidet es in einer Hinsicht vom Gleichen, in anderer vom Ungleichen. Es leidet das ungleiche, ist das Erleiden vorüber, ist es ein Gleiches.« Da nun die Wirksamkeit des Wahrgenommenen und des Wahrnehmungsfähigen zusammenfällt, das Sein aber verschieden ist, müssen Gehör und Schall, Geschmack und Schmecken usw. in diesem Sinne der Wirksamkeit verstanden, zusammen untergehen und sich erhalten; aber im Sinn der Möglichkeit verstanden, müssen sie es nicht (426 a15). (2) Wahrnehmung der Form: Allgemein ist ein Sinn die Fähigkeit, wahrnehmbare Formen ohne Materie aufzunehmen, wie das Wachs das Zeichen des Ringes ohne das Eisen und das Gold aufnimmt. Das Wahrnehmungsorgan ist ein ausgedehntes Ding, aber nicht die Wahrnehmung, die eher die Form und Kraft des Wahrnehmungsorgans ist: Die Funktion und das Instrument unterscheiden sich durch ihr Sein. (3) Die spezifische Wahrnehmung: Jeder der fünf Sinne hat seine spezifischen Objekte, der Tastsinn mehrere (heiß und kalt, trocken und nass, hart und weich). Jede dieser Wahrnehmungen ist unfehlbar, d.h. die Tatsache der Wahrnehmung selbst ist unfehlbar, wenn auch nicht die Zuordnung zu einem bestimmten Objekt. (4) Der Gemeinsinn: Eine Reihe von Objekten sind von mehr als einem Sinn wahrnehmbar – Bewegung und Ruhe, Zahl, Gestalt, Größe, Einheit, Vergehen der Zeit u. a.m. Der Gemeinsinn, eine unspezialisierte Wahrnehmung, ist die gemeinsame Natur, die allen fünf verschiedenen Sinneswahrnehmungen innewohnt. Man kann sich die Wahrnehmung als eine einzige Fähigkeit denken, die für gewisse Zwecke in die fünf Sinne spezifiziert ist, aber gewisse Funktionen dank ihrer allgemeinen Natur erfüllt. Die erste Funktion ist die Wahrnehmung »gemeinsamer Sinnesgegenstände« wie Bewegung, Ruhe, Gestalt, Größe, Zahl, Einheit. Die zweite Funktion ist die Wahrnehmung der akzidentellen Wahrnehmungsgegenstände, wie wenn man das Weiße dort als Kleons Sohn wahrnimmt. Die dritte Funktion ist die Wahrnehmung, dass wir wahrnehmen. Die vierte Funktion ist die Unterscheidung zwischen den Objekten zweier Sinne. – Für Aristoteles ist Wahrnehmen ein natürlicher, kein geistiger Vorgang, sinnliche Wahrnehmungen sind physisch, nicht mental. Die Grenze verläuft bei ihm also nicht zwischen Körper und Geist, wie später bei Descartes, sondern zwischen dem Wahrnehmen als Wahrnehmen des Einzelnen und dem Denken als Wissen des Allgemeinen.
MSU
III. Für die Stoiker sind Sinneswahrnehmungen durch äußere Einwirkung hervorgerufene Abdrücke in der (materiellen) Seele, die zu Vorstellungen weitergebildet werden, die ihrerseits von der Vernunft (logos) geprüft und als richtig oder falsch beurteilt werden. Ohne Sinneseindrücke gibt es keine Denkvorgänge und Erkenntnis, wenngleich erst die hinzukommende Tätigkeit des logos zu einer vollständigen Erfassung (Katalepsis) führt. – Grundlage der Wahrnehmung bei Epikur sind die von den Körpern ausfließenden Atome, die in der feinstofflichen Seele einen Abdruck hinterlassen. Diese Eindrücke (und Erinnerungsbilder) liegen der Vernunfttätigkeit zugrunde, das Wahrheitskriterium für deren Urteile bleibt aber die Evidenz des Wahrgenommenen. [FPB]
Literatur:
- H. Schnädelbach: Erkenntnistheorie zur Einführung. Hamburg 2002. S. 65 ff
- W. Welsch: Aisthesis. Stuttgart 1987.
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