Metzler Lexikon Philosophie: Anarchie
(griech. anarchia: Herrschaftslosigkeit), Gesetzlosigkeit, in politischem Sinn ein Zustand gesellschaftlicher Organisation ohne staatliche Herrschaft, frei von Autorität und Hierarchien jeder Art. Die Verwirklichung einer auf freier Übereinkunft, freier Föderation beruhenden Gesellschaft autonomer Individuen – für die als erster der französische Sozialrevolutionär Proudhon den Begriff Anarchismus verwendet hat – ist das Ziel verschiedener anarchistischer Theorien und Bewegungen seit dem 19. Jh. Während der von Stirner propagierte radikale Individualismus den unbeschränkten, offen egoistischen Genuss des Einzelnen zum einzig legitimen Ziel erklärte und von daher jegliche gesellschaftliche Autorität als Beschränkung von Selbstverwirklichung und -genuss ablehnte, betonen Proudhon und nach ihm Bakunin und Kropotkin die grundsätzliche Sozialität des Menschen, die sich nach der Zerschlagung staatlicher Gewalt in gegenseitiger Hilfe der Kleinproduzenten (bei Proudhon), im freiwilligen Zusammenschluss zu Arbeiterassoziationen und Kommunen (bei Bakunin) und in natürlicher Solidarität (bei Kropotkin) realisiert. Auch wenn die ökonomischen Entwürfe sich zunehmend von einer rückwärtsgewandten, vorindustriellen Utopie lösen und kommunistischen Positionen annähern, bestimmt der Streit zwischen Marxisten und Anarchisten die 1. Internationale Arbeiter-Assoziation – bis zum von Marx betriebenen Ausschluss der »Bakunisten« 1872. In der marxistischen Theorie hat sich A. auch als Terminus für die ungeregelten Produktionsverhältnisse im Kapitalismus eingebürgert, die zu zyklischen ökonomischen Krisen führen. Zu einer Verschmelzung anarchistischer und kommunistischer Elemente und auch zu einer Verlagerung der sozialen Basis von Kleinbauern und -bürgern zu Industriearbeitern kam es vor allem im Syndikalismus der französischen und spanischen Gewerkschaftsbewegungen seit der Mitte des 19. Jh. In scharfem Gegensatz zum Marxismus, der zur Vollendung der sozialen Revolution eine Funktionalisierung der staatlichen Institutionen in der Diktatur des Proletariats anstrebte, beharrte der Anarchosyndikalismus auf der sofortigen Auflösung jeglicher Form staatlicher Gewalt und lehnte daher auch eine Organisation der Arbeiterbewegung in politischen Parteien ab. Stattdessen setzte er auf »direkte« Aktionsformen (action directe). Ob und in welchem Maß dazu auch terroristische Gewalt zählt, ist eine der Fragen, die die anarchistische Bewegung immer wieder gespalten hat. – Seinen größten Einfluss entfaltete der Anarchismus in Spanien, wo die 1910 gegründete anarchosyndikalistische Gewerkschaft CNT (Confederación Nacional del Trabajo) in den 30er Jahren bis zu 700.000 Mitglieder zählte und Anarchosyndikalisten während des Bürgerkrieges in einigen Regionen die Vormacht besaßen.
Literatur:
- P. Chr. Ludz u.a.: Anarchie, Anarchismus, Anarchist. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hg. v. O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck. Bd. 1. Stuttgart 1972
- F. Neumann: Anarchismus. In: Ders. (Hg.): Handbuch Politischer Theorien und Ideologien. Reinbek 1989
- A. Paz: Durutti. Hamburg 1994.
WST
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