Metzler Lexikon Philosophie: Entlastung
zentraler Terminus der philosophischen Anthropologie von Gehlen, der das Problem benennt, vor dem der Mensch aufgrund seiner Instinktreduktion und der ihr korrespondierenden Weltoffenheit steht. Die fehlende biologische Instinktausstattung des Menschen hat eine Überflutung von Reiz- und Wahrnehmungseindrücken zur Folge. Während bei Tieren durch die Entsprechung von Instinkten und Umweltsignalen die Umwelt einen unmittelbaren Erfüllungswert hat, ist der Mensch genötigt, die Belastung der Weltoffenheit zu bewältigen. Diese Bewältigung geschieht durch konkrete körperliche Erfahrung mit den Gegenständen, die im weiteren Verlauf zur praktischen Verfügbarkeit (d.i. einem technisch-instrumentellen Verständnis) führt. Daraus resultieren Gebrauchs- und Umgangswerte, die ein Potential von Handlungsmöglichkeiten darstellen. Die Fülle der Eindrücke erfährt dadurch eine Reduktion, d.h. die Wahrnehmungseindrücke werden zu Andeutungen von möglicher Verfügbarkeit. Dieser Prozess ist eine Entlastungsleistung des Menschen, die einerseits eine Reduzierung des unmittelbaren Kontakts mit der Welt (i.S. der Reizüberflutung) bedeutet und andererseits eine Strukturierung der Welt, indem die Reize zu Erfahrungsandeutungen, die uns die Beschaffenheit und Verwendbarkeit der Gegenstände symbolisieren, verändert werden. Gehlens Entlastungsprinzip besagt: Der Mensch macht selbsttätig aus seinen elementaren Belastungen Chancen der Lebensfristung, indem seine motorischen, sensorischen und intellektuellen Leistungen sich höher entwickeln, um schließlich eine umsichtige Handlungsführung zu ermöglichen. Dieses Prinzip zeigt sich in der symbolischen Wahrnehmung des Menschen: Eine Entlastungsfunktion ist zum einen dadurch gegeben, dass ein beschränktes Spektrum von sinnlichen Reizen genügt, damit das Bewusstsein diese als Andeutungen oder Perspektiven eines Gegenstandes aufzufassen vermag, und zum anderen dadurch, dass mit den Gegenständen immer schon eine Perspektive des praktischen Zugriffs (i.S. von Handlungsmöglichkeiten, Dingreaktionen, Erfolgserwartung, Erreichbarkeit) gegeben sind. Eine besondere Rolle spielt dabei die Sprache, durch die eine selbsttätig aufgebaute Symbolik der Dinge, eine Andeutungswelt möglicher Verfügbarkeit entsteht und gleichzeitig die Möglichkeit einer gedanklichen Verfügbarkeit unabhängig vom wirklichen Vorhandensein gegeben ist. Ebenso muss sich das Handeln zu Gewohnheiten stabilisieren. Dies geschieht in rituell-darstellendem Verhalten, in dem der Mensch das ihm unverfügbar Begegnende im eigenen Verhalten darstellend wiederholt (bspw. im Ritus) und das als gruppenhaftes Darstellen eine Form des sozialen Miteinanders bewirkt. In letzter Konsequenz sieht Gehlen die Entlastungsfunktion der Institutionen darin, dass diese dem Einzelnen als unbedingte Verpflichtung gegenübertreten und nicht erst vor dem Individuum zweckrational begründet werden müssen.
Literatur:
- A. Gehlen: Der Mensch. Wiesbaden 81976
- P. Prechtl: Bedürfnisstruktur und Gesellschaft. Würzburg 1983
- J. Weiß: Weltverlust und Subjektivität. Freiburg 1971.
PP
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