Metzler Lexikon Philosophie: Enzyklopädie
(von griech. enkyklios paideia: ursprünglich ›chorische Erziehung‹, später ›Kreis der Wissenschaften‹). E.n sind – abstrahiert von ihren vielfältigen historischen Realisierungsformen – Wissensapparate, die das je vorhandene Wissen entweder in Gänze oder in spezifischen Ausschnitten sammeln, ordnen und ihren Lesern in orientierender Absicht vermitteln. – Der Begriff ›enkyklios paideia‹ meinte bis zur Mitte des 5. Jh. v. Chr. die umfassende musische Erziehung der jungen Freigeborenen im antiken Griechenland, später wurde unter dem Einfluss der Pythagoreer, der Sophisten und Platons damit ein Kanon propädeutischer Grundlagenfächer bezeichnet, der bei Quintilian und Vitruv ›orbis doctrinae‹ heißt. Der Terminus ›encyclopaedia‹ lässt sich erst seit dem ausgehenden 15. Jh. als griechische Rückübersetzung von ›orbis doctrinae‹ belegen. – Weil E.n sich ihrem Anspruch nach auf vorhandenes Wissen beziehen, besteht ihre besondere Leistung in der Auswahl, der Präsentation und vor allem in der Ordnung des Wissens. Letztere kann sich an der Einteilung wissenschaftlicher Disziplinen, an kosmischen, heilsgeschichtlichen oder im engeren Sinn philosophischen Einsichten und Annahmen orientieren. Die Ordnungen des Wissens können sich aber auch nach den spezifischen Zwecken des pragmatischen Gebrauchs einer E. richten, so dass sich bereits im MA. und in der Frühen Neuzeit je nach Funktionsbezügen unterschiedlich geordnete Typen von E.n, wie Kloster-E., Schul-E., Medizin-E., Gewerbe-E., Haus-E. etc., finden lassen (vgl. Meier). Während die systematisch geordnete und die Präsentation einer Wissenstotalität anstrebende E. dem Leser eine mehr oder weniger geschlossene Weltsicht vermittelt, hat die alphabetisch geordnete und daher für unendliche Additionen offene E. mit dieser Geschlossenheit gebrochen; gleichzeitig ist sie insofern offen als sie von ihrem Leser eigene Fragen und Suchabsichten erwartet. Noch die alphabetische Encyclopédie von Diderot und d’Alembert (1751–1780) erhob den Anspruch, Systematik mit alphabetischer Ordnung zu verbinden: sie wollte den Aufbau und Zusammenhang der menschlichen Kenntnisse darstellen und zugleich als ein Sachwörterbuch die allgemeinen Prinzipien und wichtigen Einzelheiten von Wissenschaften, Künsten und Gewerben vermitteln. Ziel war es – im Anschluss an Bacon –, Wissen zu sammeln, in der Gegenwart kommunizierbar zu machen und für kommende Generationen zu bewahren. Dadurch sollte eine wissenschaftliche und gesellschaftliche Erneuerung initiiert werden, die »unsere Enkel« nicht nur gebildeter, sondern zugleich tugendhafter und glücklicher macht. Demgegenüber hat das »Konversationslexikon« des 19. Jh.s (F. A. Brockhaus, F. Meyer etc.) den systematischen wie den spezifisch aufgeklärt-pädagogischen Anspruch aufgegeben: zwar verstand es sich noch als Medium bürgerlicher Selbstverständigung, doch ging es ihm – ebenso wie späteren enzyklopädischen Unternehmungen – um die alphabetisch geordnete additive Präsentation von Wissen.
Literatur:
- U. Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs. Bonn 1977
- F. M. Eybl u.a. (Hg.): Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Tübingen 1995
- F. Grunert/A. Syndikus (Hg.): Wissensspeicher in der Frühen Neuzeit. Formen und Funktionen. Berlin 2007
- A. Kilcher: »Mathesis« und »Poiesis«. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000. München 2003
- Chr. Meier (Hg.): Die Enzyklopädie im Wandel. Vom Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit. München 2002
- U. J. Schneider (Hg.): Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006
- Th. Stammen/W. E. J. Weber (Hg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien. Berlin 2004
- W. Wiethölter u.a. (Hg.): Vom Weltbuch bis zum World Wide Web – Enzyklopädische Literaturen. Heidelberg 2005.
FG
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