Metzler Lexikon Philosophie: Episteme
(griech. Wissen, Wissenschaft). Eine systematische Untersuchung über die E. findet sich vor allem in Platons Staat und im Theaitet. Im Staat (477 b 5 ff.) werden die E., die doxa und die agnoia (die Unwissenheit) als dynameis, Fähigkeiten, bezeichnet, die verschiedenen Seienden, Gegenständen, zugeordnet sind. Dabei ist die E. dem Seienden derart zugeordnet, dass es das wahrhaft Seiende erkennt: denn nur das wahrhaft Seiende ist wahrhaft erkennbar (gnoston, 477 a 3); im Unterschied zum Nichtwissen, das dem Nichtseienden zugeordnet ist, und der doxa, die inmitten steht und das erkennt, was zwischen Sein und Nichtsein in der Mitte steht, sich dazwischen »herumwälzt«. Diese Einteilung wird im Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis wiederaufgenommen. So wie die Sonne die Ursache für das Werden und das Gesehenwerden der sinnlich wahrnehmbaren Dinge ist, ist die Idee des Guten die Ursache für das Sein, die Wahrheit, und das Wissen, der mit dem Denken erfassten Dinge, der Formen. Im Liniengleichnis werden die Teile der Linie (509 d 6 ff.) mit den Begriffen E., dianoia, pistis und eikasia benannt, also Wissen (gnosis), Nachdenken, Fürwahrhalten und Vermutung. Der höchste repräsentiert die unwandelbaren Seienden oder Ideen. Hier fällt die E. ganz mit der Wissenschaft der Dialektik zusammen, der Fähigkeit, sich in der Welt der Ideen bis zum höchsten Grund, dem ersten Prinzip, zu erheben. Die E. ist also im Wesentlichen bestimmt durch ihre Objekte. (Über das Zustandekommen der E. aus der Wiedererinnerung (Anamnesis) und das Befestigen der E. vgl. Menon.)
Aristoteles teilt die E. in Met. 1025 b 22 ff. in die drei großen Arten des praktischen, poietischen und theoretischen Wissens ein, wobei die theoretische E. wiederum, je nach Gegenstand, in mathematisches, physisches und theologisches Wissen zerfällt. Was wir heute Wissenschaften nennen, fällt bei Aristoteles unter die theoretische E.; poietisches Wissen ist dagegen ein Können, ein Wissen-wie-man-etwas-macht, ein Sich-Verstehen-auf, praktisches Wissen die Fähigkeit, vernünftige Entscheidungen zu verwirklichen, richtig zu handeln. Aristoteles hat von Platon und Sokrates die Vorstellung übernommen, dass Wissen in der Sphäre des Handelns und Hervorbringens untrennbar mit der Fähigkeit zu tun und zu machen verbunden ist. Genau wie sich das Wissen vom Steuern eines Schiffes oder die Kunst der Schuhmacherei nur im intelligenten Steuern des Schiffes oder dem Machen der Schuhe zeigt, so manifestiert sich Wissen vom menschlichen Leben – von gut und schlecht, richtig und falsch – in der intelligenten Verwirklichung des richtigen Ideals, des »richtigen Strebens«. Praktische und poietische E. sind bei ihm deshalb nicht Zweige der theoretischen Wissenschaft, sondern Weisen des Könnens, des Wissens-wie. Seine Klassifikation deckt also die gesamte Sphäre der intelligenten Tätigkeit des Menschen ab: Er unterscheidet die verschiedenen Weisen ihrer Ausübung und die verschiedenen Abteilungen der Erfahrung, die sie in sich enthält. Der Mensch unterscheidet sich von anderen Lebewesen dadurch, dass er denkt, durch seine Intelligenz, er ist ein rationales Lebewesen, er ist durch Rede charakterisiert, durch Denken (dianoia), durch einen anschauenden Intellekt (nous). Jeder Bereich der menschlichen Aktivität – Handeln, Hervorbringen, Nachdenken (Theorie) – kann eine E. genannt werden. Der Handelnde Z.B., der in seinen Handlungen bewusst das rechte Ideal verwirklicht, das er intelligent geplant hat, ist epistemon, im Unterschied zum Menschen, der draufloslebt, nach der Leidenschaft des Augenblicks oder ohne Lebensplan. Der Handwerker, dessen Arbeit das Ergebnis einer geübten Geschicklichkeit ist, die im Dienst des wirklich begriffenen Ideals geschieht, der Künstler, der weiß, was und wie er zu produzieren hat, ist ein Wissender im Gegensatz zu dem, der nur zufällig erfolgreich ist oder nur eine irrationale Erfahrung (empeiria) besitzt (vgl. Gorgias 462 d 3).
MSU
In der Stoa wird das gesicherte Wissen (episteme) als von keinem Vernunftgrund mehr umzustoßende Erfassung (katalepsis) definiert. Dieses ist das Ergebnis eines Erkenntnisvorganges, der seine Grundlage in der Sinneswahrnehmung hat, aus deren Eindrücken die Seele Vorstellungen schafft, die vom logos geprüft werden und nach dessen Zustimmung die unerschütterliche Erfassung ermöglichen. – Bei Epikur liegt das Wahrheitskriterium in der Evidenz der Sinneswahrnehmungen selbst. Vernunfturteile gelten als wahr, wenn sie durch die Wahrnehmung bestätigt werden oder (sofern sie sich auf Nicht-Wahrnehmbares beziehen) wenn ihnen nichts in der Wahrnehmung widerspricht.
Literatur:
- C. Horn: Platons episteme-doxa-Unterscheidung und die Ideentheorie. In: O. Höffe (Hg.): Platon, Politeia. Berlin 1997. S. 291 ff.
FPB
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