Metzler Lexikon Philosophie: Erfahrung, innere/äußere
Im Unterschied zur »äußeren Erfahrung« (Erfassen der Außenwelt, Erfahrung physischer Phänomene durch die menschlichen Sinnesorgane in der Sensation) bezieht sich die innere E. auf das nicht den Sinnen, sondern dem geistigen Vermögen der reflection (J. Locke) zugängliche »innere Leben« des Menschen. Allerdings gibt es auch Theorien, die analog zum sensus exterior einen sensus interior lehren. Innere und äußere Erfahrung werden geschieden nach Gegenstand, Art und Richtung der Erfassung. Der äußeren E. wird im Allgemeinen lediglich der Rang von Annehmen oder Glauben, nicht aber sicheren Wissens zuerkannt, während der i.n E. die evidente, unbezweifelbare Wahrnehmung seiner selbst (unter normalen Umständen) nicht abgesprochen wird. I. E. gilt als das criterium inconcussum gegen skeptische Einwände. Trotz der Geschiedenheit von i.r E. und äußerer E. darf der Aufbau der i.n E. (»sekundäre Wahrnehmung« im Sinne Brentanos) auf Daten der äußeren E. (»primäre Wahrnehmung«) nicht übersehen werden. I. E. schöpft nicht rein aus sich selbst (F. Bacon) und schafft sich keine Gegenstände, sondern bearbeitet das von äußerer E. gelieferte Material. I. E. ist in dieser Hinsicht abhängig von äußerer; umgekehrt ist äußere E. insofern abhängig von innerer, als durch sie aus der »rohen« Erfahrung eine »gelehrte Erfahrung« (F. Bacon) werden kann. I. E. ist gekennzeichnet durch einen zweifachen intentionalen Bezug: Sie ist Bewusstsein von äußerer E. und »nebenher« (Aristoteles) von sich selbst. Sie ist damit zugleich auf Bewusstseinstranszendentes und Bewusstseinsimmanentes gerichtet. Indem sie die Gegenstände der äußeren E. als »immanente Gegenstände«, ohne deren Materie (Hyle) – deshalb auch »reine« E. genannt –, in sich aufnimmt, kann sie deren Struktur und Eigenschaften (Qualitäten) beurteilen. Zudem weiß sie als Bewusstsein ihrer selbst auch über ihre verschiedenen Beziehungsweisen, die sie zu den immanenten Gegenständen und den Erfahrungsinhalten einnimmt. Darauf beruht die Beschreibbarkeit der Innenwelt der Außenwelt. I. E. kann mithin betrachtet werden als substantieller, determinierender Bestandteil der äußeren E. Das Verhältnis von innerer zur äußeren E. stellt sich nun als asymmetrisch dar, als gewisse einseitige Abhängigkeit der äußeren von der i.n E. Dementsprechend wird i. E. auch als eigentliche, als objektive E. bezeichnet, da sie sich selbst und ihre Gegenstände, so wie sie eigentlich sind, d.h. wie sie sich im Erleben präsentieren, erfassen kann. – Die philosophische Psychologie und Phänomenologie, auch die dadurch beeinflusste »Würzburger Schule der Denkpsychologie« greifen deswegen vornehmlich auf die i. E. als Wahrnehmungsquelle zurück, während die neuere empirische Psychologie eher Fragen der äußeren E. nachgeht.
Literatur:
- F. Bacon: Novum Organum. In: The Works of F. Bacon. Vol 1. London 1858 (Nachdr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1963)
- F. Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt. 3 Bde. Hamburg 31973
- E. Husserl: Erfahrung und Urteil. Hamburg 41972
- J. Locke: An Essay Concerning Human Understanding. London 1690 (dt. Über den menschlichen Verstand. 2 Bde. Hamburg 1968).
WB
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