Metzler Lexikon Philosophie: Erkenntnistheorie
Die Problemstellung der E. ergibt sich aus der Differenz zweier Bewusstseinseinstellungen, die für das Alltagsverständnis nicht selbstverständlich sind. Denn für das Bewusstsein der natürlichen Einstellung stellt die Welt der Objekte einen vorgegebenen Bereich fragloser Gültigkeit dar. Erst wenn die Frage aufkommt, wie eine solche Objektivität begründet ist bzw. in welcher Weise sich das Bewusstsein auf diese Wirklichkeit bezieht, wird der Rahmen des Selbstverständlichen verlassen und der Horizont für erkenntnistheoretische Problemstellungen eröffnet. Der E. geht es darum, das angemessene Verhältnis von Mensch und Welt und die verschiedenen Formen des Erkennens zu bestimmen. Dabei kristallisiert sich als konkrete Aufgabe die Erforschung der Bedingungen von Erkenntnis, deren Möglichkeiten und Grenzen heraus, die sich in die Fragen nach dem Verhältnis von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt, nach der »Natur« des Erkenntnissubjekts und der »Natur« des Objekts fassen lassen. Gegenwärtige Formen der E., die die Beantwortbarkeit solcher grundlegenden Fragen bezweifeln bzw. ein bestimmtes Verhältnis des Mensch-Welt-Bezugs als nicht weiter thematisierungsbedürftig unterstellen, schränken die Fragestellung der E. ein. Repräsentativ dafür mag Poppers Formulierung stehen, die E. müsse ein strenges und allgemein verwendbares Kriterium aufstellen, das gestattet, Sätze der empirischen Wissenschaften von metaphysischen Behauptungen zu unterscheiden (Abgrenzungskriterium). Sie müsse zudem klären, ob Wirklichkeitsaussagen, die sich auf Erfahrung gründen, allgemeingültig sein können (Induktionsproblem). Popper teilt mit der traditionellen E. die Fragestellung der Begründung und Rechtfertigung von Erkenntnis, er konkretisiert aber die Aufgabenstellung der E. unter der empiristischen Sichtweise des Mensch-Welt-Bezugs. Daraus erklärt sich sein Verständnis von E. als einer Methodenlehre der empirischen Wissenschaft. Kritiker der philosophischen E. vertreten die Meinung, man solle diese zum Restbestand überholter Sichtweisen gehörigen Fragen entweder auf sich beruhen lassen oder besser noch den empirischen Wissenschaften zur Klärung übergeben. Eine solche Einschätzung verkennt die eigentliche Problemstellung der E., wenn sie von der Annahme ausgeht, dass eine vom menschlichen Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit existiert und unsere Wahrnehmung danach zu beurteilen wäre, wie genau diese den objektiven Gegebenheiten entspricht. Die Frage, ob eine solche Annahme haltbar ist, kann von den empirischen Ansätzen bspw. einer Denkpsychologie oder Biologie nicht mehr beantwortet werden, da Fragen der Gültigkeit von Voraussetzungen und der Zuverlässigkeit von Methoden außerhalb des eigenen Horizonts liegen. Denn eine Erklärung der Gültigkeit der Methode mit eben denselben Mitteln der zu erklärenden Methode muss zu einer zirkulären Argumentation führen. Es ist methodisch nicht korrekt, Aussagen über menschliches Erkennen insgesamt machen zu wollen, ohne die eigenen Verfahren und Methoden miteinzubeziehen. Man kann also nicht die Meinung vertreten, der Standpunkt der Wissenschaft würde eine von den Bedingungen menschlichen Erkennens freie und von erkenntnistheoretischen Problemen unbelastete Perspektive ermöglichen. Der besondere Charakter der E. zeigt sich darin, dass sie sich nicht von »außen« (gleichsam einem höheren Standpunkt) betreiben lässt, sondern nur als eine immanente Selbstkritik des Erkenntnisvermögens vollzogen werden kann. Aussagen über menschliche Erkenntnis müssen selbstanwendbar sein (Kutschera). Die E. ist demnach nicht als empirische Wissenschaft durchführbar. Denn ihre Fragen zielen nicht auf irgendwelche Ereignisabfolgen oder Verlaufsformen psychischer oder mentaler Prozesse, d.h. sind keine denkpsychologischen Tatsachenfragen, sondern müssen als Begründungs- und Geltungsfragen verstanden werden (Kant, Popper).
Die angeführte grundlegende Fragestellung nach dem Verhältnis von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt lässt sich nach zwei Hinsichten thematisieren: (1) Worin besteht der Ursprung oder die Quelle der Erkenntnis? (2) Ist die Welt als unabhängig von einem erkennenden Subjekt vorzustellen oder erst in Bezug auf die Denkleistungen eines Subjekts? Die Verschiedenheit der Positionen in der E. resultieren aus den unterschiedlichen Antworten darauf. Die systematisierende Einteilung der Positionen nach Rationalismus, Empirismus und Kritizismus bezieht sich auf die Frage nach dem Erkenntnisursprung, die Einteilung in Realismus und Idealismus bezieht sich auf die Frage nach dem »Status« der Wirklichkeit.
Descartes hat mit Hilfe seines methodischen Zweifels den Weg des Rationalismus vorgezeichnet. Der Zweifel richtet sich primär gegen die Annahme, die Wahrnehmung stelle die Grundlage (d.i. ein Prinzip) des Erkennens dar. Als Resultat bietet er die Selbstgewissheit des Denkens, das sich nicht weiter bezweifeln lässt. Von dieser Selbstgewissheit aus ergibt sich der Begründungsbedarf bezüglich der Realität der Außenwelt. Descartes’ Antwort besteht in der Zweiteilung in res cogitans und res extensa. Im Zusammenhang mit dieser Zweiteilung führt seine Aussage, dass das Wissen in der sicheren und klaren Erkenntnis bestehe, zu einer Vorrangstellung von Mathematik und Geometrie. Die Gegenstände der Außenwelt, die er als ausgedehnte Materie charakterisiert, werden durch den messenden Verstand erkannt. Der Wahrheit von Urteilen, die eine Beziehung von Begriffen betreffen, steht die Wahrheit von Existentialurteilen über die Außenwelt gegenüber. Für die Bestimmung der Wahrheit als Übereinstimmung von Urteil und beurteilter Wirklichkeit wird das allgemeine Problem der E. virulent, wie diese Übereinstimmung festgestellt werden kann. Descartes gibt darauf keine befriedigende Antwort, sondern verweist auf den Bereich der rational einsichtigen Zusammenhänge. Leibniz verleiht dieser Aufteilung besonderen Nachdruck, indem er auf die Erfahrungsunabhängigkeit der Mathematik und Geometrie und auf die notwendige Unterscheidung zwischen Genese eines Erkenntnisinhalts und der Geltung als Erkenntnis verweist. Er trägt dem durch die Unterscheidung zwischen Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten Rechnung. Die ersteren sind notwendig und ihr Gegenteil kann nicht ohne Widerspruch gedacht werden. Deren Wahrheit kann man durch Analyse finden, indem man sie in einfachere Ideen und Wahrheiten auflöst. Die Tatsachenwahrheiten sind zufällig und ihr Gegenteil kann ohne Widerspruch gedacht werden. In Bezug auf sie leitet das Prinzip des zureichenden Grundes die Vernunft an: Keine Tatsache kann als wahr oder existierend, keine Aussage als wahrhaftig befunden werden, ohne dass ein zureichender Grund (in der Version des Kausalprinzips »nichts geschieht ohne Ursache«) angegeben werden kann. – Repräsentativ für die empiristische These, dass alles Wissen über die Außenwelt auf Erfahrung beruhe, stehen Locke und Hume. Die physische Realität der Außenwelt wird im Bewusstsein (mind) durch verschiedene Arten von Ideen repräsentiert. Sämtliche Ideen sind entweder auf die Sinneswahrnehmung (Hume: ideas of sensation) oder auf Selbstwahrnehmung (Hume: ideas of reflection) zurückzuführen. Locke vergleicht das menschliche Bewusstsein vor dem ersten Sinneseindruck mit einem unbeschriebenen Blatt Papier (tabula rasa). Als Quellen der Erkenntnis fungieren demnach die äußere und die innere Wahrnehmung. Diese Überlegungen lassen sich in der empiristischen Grundthese zusammenfassen: Alle Vorstellungen (Ideen) sind auf Eindrücke zurückzuführen, denn sie geben die Grundlage unseres Erfahrungswissens ab. Die als Kritizismus bezeichnete Position wird durch die erkenntniskritischen Überlegungen Kants begründet. Er grenzt sich von der empiristischen Erkenntnisbegründung durch Erfahrung ebenso ab wie von der rationalistischen Begriffskonzeption. Seine Sichtweise der Stellung des Subjekts zum Objekt drückt sich in der Aussage aus: Die Erkenntnis soll sich nicht länger nach dem Gegenstand, sondern der Gegenstand nach unserer Erkenntnis richten (KrV B XVI). Die zur objektiven Erkenntnis gehörende Notwendigkeit und Allgemeinheit der Aussagen und Begriffe stammen nicht aus den Gegenständen, sondern gehen der Erfahrung in einem logischen Sinne voraus. Kants Untersuchungen führen zu der Feststellung der erfahrungsunabhängigen Bedingungen objektiver Erkenntnis, die den »Rechtsgrund« für objektive Erkenntnis abgeben. Seine erkenntnistheoretische These ist, dass das bloße Rezipieren des durch die Erfahrung Gegebenen noch keine Erkenntnis ausmache, da in der Erkenntnis nicht einfach Empfindungen abgebildet werden, sondern mit Hilfe von Verstandesbegriffen (d.h. den Kategorien) nach Regeln zusammengefasst und in eine Einheit gebracht werden.
Der Gegensatz von Rationalismus und Empirismus findet in der gegenwärtigen Diskussion eine Entsprechung im Gegensatz zwischen Deduktivismus und Induktivismus. Dabei wird nicht mehr im Hinblick auf das Subjekt oder Objekt der Erkenntnis nach dem Geltungsgrund gefragt, sondern die Art der Aussagen und die Weise der Überprüfung ihrer Geltung thematisiert. Der Rationalismus vertritt dabei die Auffassung, dass die Wahrheit von Sätzen, die Aussagen über die Wirklichkeit machen, aus Vernunftgründen entschieden werden kann. Er stellt die obersten Grundsätze des Systems unabhängig von der Erfahrung auf und begründet einen wissenschaftlichen Satz durch logische Ableitung (Deduktion) seiner Sätze. Für den Empirismus mit seiner These, dass Wahrheit auf Erfahrung beruhe, ist die Induktion grundlegend, d.h. die Ableitung allgemeiner Sätze aus Erfahrungssätzen, die unmittelbar durch Erfahrung überprüft werden können. Poppers Position des Kritischen Rationalismus verbindet beide Ansätze: Rationalistisch ist seine Annahme, dass die allgemeinen Gesetze ohne empirische Rechtfertigung, aber auch ohne Wahrheitsanspruch aufgestellt werden. Diese stellen zunächst vorläufige Annahmen dar, deren Bewährung nur empirisch überprüft werden kann, indem aus der Gesetzeshypothese und der Angabe von empirischen Umständen (Anfangsbedingungen) eine Prognose über das Eintreten eines Ereignisses abgeleitet wird. Aus der Bestätigung der Prognose kann man auf die Tragfähigkeit der Gesetzeshypothese schließen.
Die klassische E. richtet das Hauptaugenmerk auf die Welt materieller Objekte. Wenn aber E. als Untersuchung der Realitätserkenntnis in einem umfassenderen Sinne verstanden wird, dann stellen sich ähnliche Fragen in Bezug auf die menschliche Gesellschaft oder die zwischenmenschlichen Beziehungen und Interaktionsformen als Wirklichkeitsbereiche. Winch hat im Anschluss an Wittgenstein in Bezug auf die Erklärung der sozialen Handlungswelt den Begriff »einer Regel folgen« eingeführt und damit jenes Thema für die E. reklamiert, das Dilthey mit dem Gegensatz von Erklären und Verstehen und dem Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaft aufgeworfen hat (Erklären-Verstehen-Kontroverse).
Die zweite Fragehinsicht der E. nach der Realität bzw. Bewusstseinsunabhängigkeit der Außenwelt führt zu den gegensätzlichen Standpunkten des Realismus und Idealismus (und ihren »Mischformen«). Beide Positionen lassen sich repräsentativ an Locke und Berkeley verdeutlichen. Locke vertritt die Auffassung, dass es eine unabhängig vom erkennenden Bewusstsein existierende Außenwelt gibt. Die »primären Qualitäten«, die einerseits Qualitäten dieser Dinge sind und andererseits von den Sinnen des Menschen wahrgenommen werden, vermitteln ein Abbild von der materiellen Beschaffenheit dieser Außenwelt. Wenn unsere Sinne tatsächlich unserem Verstand eine Vorstellung zuführen, so dürfen wir überzeugt sein, dass in diesem Augenblick ein Ding außer uns existiert. Die Sinneswahrnehmung vermittelt die Überzeugung, dass es ausgedehnte Substanzen gibt, die dann als Gegenstände der Außenwelt identifiziert werden. Für Berkeley beruht die Annahme einer unabhängig vom erkennenden Subjekt existierenden materiellen Außenwelt auf einer falschen Vorstellung des Erkenntnisprozesses bei Locke. Locke übertrage eine mechanistische Auffassung auf den Erkenntnisprozess, indem er von der Wahrnehmung als Reizung der Sinnesorgane ausgeht und am Ende einer solchen Ursache-Wirkungs-Kette eines Wahrnehmungsprozesses die Wahrnehmung als Idee im menschlichen Bewusstsein behauptet. Bestritten wird von Berkeley die Annahme der Außenwelt als materieller Substanz, nicht im Sinne einer phänomenalen, d.h. in Erscheinungsweisen des Bewusstseins gegebenen Außenwelt. In den transzendentalen Ansätzen von Kant und dem Neukantianismus einerseits und in Husserls Phänomenologie andererseits werden die das Objekt konstituierenden Verstandes- bzw. Bewusstseinsleistungen des Subjekts thematisiert. Der Begriff Konstitution ist nicht in einem materiellen Sinne zu verstehen, sondern bezieht sich dabei einzig auf die Erkennbarkeit bzw. Sinnkonstitution des Objekts.
Die Frage nach dem »Status« der Außenwelt ist schon bei Locke und Berkeley erweitert worden auf die Frage, aufgrund welcher Begriffe wir ein korrektes Bild der Welt erhalten. Als empiristisch bezeichnet man alle philosophischen Richtungen, die in der Erfahrung den einzigen Ursprungs- und Rechtfertigungsgrund aller empirischen Erkenntnis sehen. Der Ansicht von Locke, die Allgemeinbegriffe entstünden durch Abstraktion aus den Vorstellungen von Einzeldingen, ist Berkeley durch den Hinweis auf den wesentlichen Unterschied von Vorstellung (die immer konkret auf ein Einzelding bezogen ist) und abstrakten Begriffen entgegengetreten. In der gegenwärtigen Diskussion der E. stehen diese Fragen, die sich in Bezug auf die Begriffe stellen, im Vordergrund. Der Stellenwert der Allgemeinbegriffe wird dabei nicht mehr als ontologisches Problem (Universalienstreit), sondern als semantisches Problem behandelt, nämlich ob allgemeinen Ausdrücken allgemeine Bedeutungen entsprechen. Lockes These, alle empirischen Begriffe seien aus der Erfahrung abgeleitet, wird übersetzt in die These: Alle empirischen Terme lassen sich durch Beobachtungsterme definieren (Signifikanz). Die Frage, was als Erkenntnis gelten kann, wird in Bezug auf die Urteile als Wahrheitsproblem in den unterschiedlichen Konzeptionen der Korrespondenztheorie, der Kohärenztheorie, der intuitionistischen und der pragmatistischen Wahrheitskonzeption (Wahrheit) thematisiert.
Literatur:
- P. Baumann: Erkenntnistheorie. Lehrbuch Philosophie. Stuttgart/Weimar 22006
- P. Baumanns: Kants Philosophie der Erkenntnis. Würzburg 1997
- G. Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Hamburg 1957
- Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. Hamburg 1965
- Ders.: Discours de la Méthode. Hamburg 1969
- Ders.: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hamburg 1959
- G. Gabriel: Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Paderborn 1993
- D. Hume: Untersuchungen über den menschlichen Verstand. Hamburg 1961
- Ders.: Ein Traktat über die menschliche Natur Bd. 1. Hamburg 1989
- I. Kant: Kritik der reinen Vernunft
- G. W. Leibniz: Monadologie. Stuttgart 1963
- Ders.: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. 2 Bde. Darmstadt 1985
- J. Locke: Untersuchungen über den menschlichen Verstand. 2 Bde. Hamburg 1981
- F. v. Kutschera: Grundfragen der Erkenntnistheorie. Berlin/New York 1982
- K. Popper: Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Tübingen 1979
- G. Prauss: Einführung in die Erkenntnistheorie. Darmstadt 1980
- H. Schnädelbach: Erkenntnistheorie zur Einführung. Hamburg 2002
- P. Winch: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie. Frankfurt 1974.
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