Metzler Lexikon Philosophie: Ethnologie
Der E. werden in verschiedenen Ländern unterschiedliche Bestimmungen zugeschrieben. In Osteuropa wird sie als eine aufgrund empirischer Daten beschreibende Darstellungsart der Ethnographie gleichgesetzt, im westeuropäischen Kulturkreis gilt sie als analytische und vergleichende Wissenschaft, in der angelsächsischen Welt als soziale Anthropologie und in den USA als Kulturanthropologie. E. als Völkerkunde bezieht sich auf Erkenntnisse über Gesellschaften und Kulturen fremder Völker, die aufgrund ihrer geographischen Lage, der gemeinsamen Sprache, des sozialen Lebens und der traditionellen Überlieferungen der Sitten und Bräuche eine gemeinsame kulturelle Welt teilen und dadurch eine Einheit bilden. – In der Triade von Ethnographie, E. und Anthropologie stellt die E. einen wissenschaftlichen Diskurs dar, in dem man ein möglichst umfangreiches Datenmaterial, das nicht nur von Ethnographen, sondern auch von Reisenden und Missionaren stammt, systematisiert und theoretisch integriert. Die Polaritäten dieser Systematisierung sind dreifach: die biologische von Natur und Kultur, die soziale von Individuum und Gesellschaft und die epistemologische von natur- und geisteswissenschaftlichen Methoden. Als Grundlage jeder ethnologischen Theoriebildung, Verallgemeinerung und interkultureller Vergleiche dient die Ethnographie. Der Begriff E. bezieht sich sowohl auf den Prozess der Feldforschung, in dem man durch teilnehmende Beobachtung die Daten sammelt, als auch auf die Ergebnisse, die den Ethnologen in der schriftlichen Form der Monographie zugänglich sind.
Die ersten Versuche ethnologischer Theorien stammen von Autoren (z.B. E. B. Tylor, J. Frazer), die selber nicht Ethnographen waren und dadurch auch ihre Ansätze mehr spekulativ als empirisch begründeten. Nach F. Boas’ Forderungen nach soliden Forschungen mit längerem Aufenthalt im Feld wurde mit B. Malinowski die Methode der »teilnehmenden Beobachtung« maßgebend, die verlangt, sich längere Zeit bei der fremden Kultur aufzuhalten, aktiv an ihrem Leben teilzunehmen und die einheimische Sprache gründlich zu lernen. Nicht nur die Rekonstruktion des Vergangenen war wichtig, sondern auch das Bewahren der authentischen Tradition, die durch die Begegnung mit anderen Kulturen in Vergessenheit zu geraten drohte. Das so gewonnene Bild war ahistorisch, und es entstanden ontologische ethnographische Texte, deren Rhetorik durch die Anwendung des ethnographischen Präsens und der Anonymität von Informanten und Ethnographen leicht erkennbar ist. – Den Anspruch auf Objektivität versucht die »Ethnoscience« methodisch dadurch zu fundieren, dass mit Hilfe der analytischen Kategorien der Einheimischen selbst eine treue Abbildung der indigenen kulturellen Welt gestaltet wird. – Mit der hermeneutischen Wende in der E. trat die Konstruiertheit von Ethnographien in den Blickpunkt. Kultur als Bedeutungssystem kann nur interpretativ erfasst werden und nimmt daher Gestalt an in den Interpretationen sowohl einheimischer Informanten als auch des Ethnologen. Beschreibung, dichte/dünne, Ethnomethodologie, Writing Culture.
Literatur:
- Mukerji Chandra/M. Schudson (Hg.): Contemporary Perspectives in Cultural Studies. Berkeley 1991
- K.-H. Kohl: Ethnologie. Die Wissenschaft vom kulturell Fremden. München 1993
- R. H. Lowie: The History of Ethnological Theory. New York 1937
- G. E. Marcus/M. J. Fischer: Anthropology as Cultural Critique. Chicago 1986
- R. Redfield: The Little Community and Peasant Society and Culture. Chicago 1960.
SZ/FPB
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