Metzler Lexikon Philosophie: Existenzphilosophie
philosophische Strömung des 19. und 20. Jh. In kritischer Abgrenzung zu traditionellen Systemen essentialistischer Prägung betont die E. den Ausgangspunkt philosophischen Denkens bei der konkreten Welt- und Selbsterfahrung des Subjekts. Ihren Ausgang nimmt die E. mit Kierkegaard auf dem Hintergrund der Idealismuskritik des 19. Jh. Kierkegaard kritisiert das Verschwinden der Wirklichkeit des Subjekts im System des reinen Denkens der idealistischen Spekulation. »Was ist abstraktes Denken? Es ist das Denken, bei dem es keinen Denkenden gibt. Es sieht ab von allem anderen als dem Gedanken, und nur der Gedanke ist in seinem eigenen Medium. … Was ist konkretes Denken? Es ist das Denken, bei dem es einen Denkenden gibt, und ein bestimmtes Etwas, das gedacht wird; bei dem die Existenz dem existierenden Denker den Gedanken, Zeit und Raum gibt« (Samlede Værker. 1. Aufl. VII 287). Kierkegaard will die notwendige Abstraktion des Denkens wieder an ihre Basis in der konkreten Selbsterfahrung des Subjekts zurückbinden. Grundlegend ist das Verständnis des Menschen als eines Verhältnisses, das sich zu sich selbst verhält und daher frei zur eigenen Selbstbestimmung ist. Er ist eine von ihm selbst zu leistende Synthese von Idealität und Realität, Endlichkeit und Unendlichkeit, Notwendigkeit und Möglichkeit. Als ein Seinkönnen muss der Mensch über die Wirklichkeit seiner Möglichkeiten noch selbst entscheiden. Dabei unterscheidet Kierkegaard zwischen aufsteigenden Realisationsstufen dieses Selbstverhältnisses, dem ästhetischen, ethischen und religiösen Existenzstadium. Das Bewusstwerden des eigenen einmaligen Selbst vollzieht sich dabei in existentiell bedeutsamen Selbsterfahrungen wie Verzweiflung, Angst, Schuld. Dabei ist für Kierkegaards Denken der religiöse Hintergrund entscheidend. Der Mensch kann nur er selbst werden, wenn er sich als von Gott gesetzt und auf diesen hin bestimmt erkennt, schließlich sich selbst loslässt und vorbehaltlos in Gott gründet.
Für die E. des 20. Jh. wurden neben Kierkegaard zahlreiche Impulse namhaft gemacht, die von der Lebensphilosophie, Nietzsche, der Diskussion um die Geschichtlichkeit des Menschen und allgemein der politisch-sozialen Situation des Jh. ausgehen. Jedoch ist die Strömung zu heterogen, um sie auf eine bestimmte Linie festzulegen. Die christliche Ausrichtung Kierkegaards wird von den späteren Existenzphilosophen zumeist aufgegeben, bzw. es wird ein dezidiert atheistischer Standpunkt, wie bei Sartre, eingenommen. – Jaspers dürfte sich noch am engsten an Kierkegaard anlehnen. Er versteht E. nicht als eine neue Philosophie, sondern als die der Zeit gemäße Erscheinungsform der philosophia perennis. Bereits in seiner Schrift Die geistige Situation der Zeit (1931) verweist er auf das dem einzelnen mögliche Selbstsein, das sich aus dem Grund einer substanziellen geistigen Tradition speist, als Gegenpol gegen die nivellierenden Tendenzen einer aufkommenden Massendaseinsordnung. Er bestimmt dort E. als »das alle Sachkunde nutzende, aber überschreitende Denken, durch das der Mensch er selbst werden möchte.« (Kap. IV, 2) In seiner Philosophie (1932) zeigt Jaspers, dass mit den Methoden der wissenschaftlichen »Weltorientierung« nur ein jeweils bestimmtes, nämlich verobjektivierbares Sein in den Blickpunkt tritt, der einzelne Mensch in den geschichtlichen Möglichkeiten seines Seinkönnens aber nicht erfassbar ist. Im Gegensatz zum empirischen, und somit wissenschaftlich erforschbaren, Dasein bezeichnet Existenz bei Jaspers das Selbst, das sich zu seinem Seinkönnen verhält, dergestalt, dass es im Denken, Entscheiden und Handeln Ursprung seines Wesens wird. Aufgabe der Existenzerhellung ist daher, dem einzelnen sein mögliches Selbstsein bewusst zu machen und an dessen Verwirklichung zu appellieren. Von entscheidender Bedeutung ist die Erfahrung von Grenzsituationen (wie Tod, Leiden, Schuld), an denen der scheinbare Halt in der äußerlichen Daseinsgeborgenheit zerbricht und der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen wird. Anders als aber bei Sartre steht die auf sich gestellte Existenz in Bezug auf eine die Welt und sie selbst übergreifende Transzendenz, die sich in vielgestaltigen Chiffren manifestieren kann. Später (Von der Wahrheit, 1947) entwickelt Jaspers seine Lehre vom Umgreifenden, die sein Denken in eine umfassendere Systematik bringt.
In Sein und Zeit (1927) will Heidegger die Frage nach dem Sinn von Sein neu stellen. Sein Ansatzpunkt versteht sich als Fundamentalontologie, die den Menschen als ein seinsverstehendes Wesen zum Ausgangspunkt nimmt. Aufgrund seines Seinsverständnisses eröffnet sich dem Menschen als Dasein sein eigenes Seinkönnen (Existenz), wie auch der Bewandtniszusammenhang der Welt. Der Mensch nimmt nicht erst eine nachträgliche, reflexive Erkenntnishaltung zur Welt ein, sondern sein »In-der-Welt-sein« zeichnet sich immer schon durch ein ursprüngliches »Vertrautsein« im Umgang mit der Welt aus. So liegt im Dasein eine primäre Erschlossenheit des Seins, die durch eine Analytik der Vollzugsweisen von Dasein aufgedeckt wird. Diese Seinscharaktere des Daseins sind als Existenzialien von den Kategorien als Seinsbestimmungen von nicht daseinsmäßigem Sein zu unterscheiden. Den ontologischen Ansatz Heideggers kennzeichnet auch seine Unterscheidung von existenzial (die Seinscharaktere des Daseins betreffend) und existenziell (eine konkrete Einstellung des Menschen aufgrund seiner existenzialen Verfassung betreffend). Nach Heidegger ist Kierkegaard bei der existenziellen Analytik stehen geblieben, während Jaspers wiederum an Heidegger die ontologische Fixierung auf Existenzialien kritisiert. – In Heideggers späterem Denken tritt dann der Primat des Seins verstärkt hervor. Es ist nun das Sein selbst, das Seinsverständnis ermöglicht, in der Weise, in der es sich entbirgt. »Der Mensch ist vielmehr vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins ›geworfen‹, dass er, dergestalt ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine« (Brief über den Humanismus, Gesamtausgabe Bd. 9, S. 330).
In Frankreich, wo der Existentialismus nicht nur auf die Philosophie beschränkt ist, sondern auch in der Literatur und Kunst gegenwärtig, hat Sartre eine Richtung eingeschlagen, die sich auch als eine phänomenologische Ontologie verstehen lässt (L'être et le néant, 1943). Die menschliche Existenz trägt in sich eine Negation: Der Mensch ist ein Sein, »das ist, was es nicht ist, und das nicht ist, was es ist.« D.h. der Mensch entwirft sich über das Gegebene hinaus auf die Zukunft hin, er ist wesentlich durch seine Möglichkeit bestimmt. Durch seinen Entwurf ist er immer schon über sich hinaus, er ist, was er noch nicht ist, aber sein kann. Er ist auch nicht nur das, was er faktisch schon ist, weil er durch seine unabsehbaren Möglichkeiten mitbestimmt ist. Die Seinsverfassung des Menschen ist daher Freiheit, denn das, was er ist, muss er erst aus sich machen. Da es für Sartre keinen Gott gibt, der dem Menschen sein Wesen vorgibt, bestimmt er sich durch seine Existenz selbst: »Was bedeutet hier, daß die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, daß der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert« (Ist der Existentialismus ein Humanismus? In: Drei Essays. Frankfurt 1962 u.ö.). Camus macht in seinem Le Mythe de Sisyphe (1942) die existentielle Erfahrung des Absurden zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Das Absurde besteht in der Kluft zwischen dem Menschen, der nach Sinn fragt, und der Welt, die schweigt. Der Verzicht auf einen jenseitigen, metaphysischen Sinn wirft den Menschen radikal auf sich selbst zurück und verlangt, sich innerhalb einer Welt des menschlichen Maßes einzurichten, nichts Jenseitiges zu erhoffen, sondern das Gegebene auszuschöpfen. Um seiner eigenen Identität willen muss der Mensch aber an seinem Anspruch auf Sinnerfüllung festhalten, auch wenn er weiß, dass dieser nicht einzulösen ist. Daher ist seine grundlegende Haltung die der Auflehnung gegen das Absurde, in der er sich mit anderen solidarisch erfährt. Die Revolte ist der geschichtliche Ausdruck der Auflehnung des Menschen gegen die Bedingungen seines Daseins (L'homme révolté, 1951). Ohne Solidarität verrät die Auflehnung ihren eigenen Ursprung und wird zur Revolution. Revolte ist der Übergang von der verneinten Wirklichkeit zur Idee, die Revolution die Anpassung der Wirklichkeit an die Idee. Letztere unterwirft so den Menschen ihrer Ideologie und wird zum Terror. Dem setzt Camus den Gedanken des Maßes, der »penseé de midi« entgegen. Maßlosigkeit, als Überschreiten der Grenzen, ist der Verstoß des Menschen gegen das Innewerden seines Wesens, in dem er die Würde seines Seins in der Solidarität mit allem Seienden erfährt.
Als weitere Vertreter der E. können N. Abbagnano, G. Marcel und P. Wust gelten. Einflüsse der E. finden sich in der Psychologie und Psychopathologie (so z.B. bei L. Binswanger) und der protestantischen (K. Barth, R. Bultmann) und katholischen (K. Rahner) Theologie.
Literatur:
- F.-P. Burkard: K. Jaspers. Würzburg 1985
- H. Deuser: Kierkegaard. Darmstadt 1985
- J. Hengelbrock: J.-P. Sartre. Freiburg 1989
- W. Janke: Existenzphilosophie. Berlin/New York 1982
- A. Pieper: A. Camus. München 1984
- O. Pöggeler: Der Denkweg M. Heideggers. Pfullingen 1963
- K. Salamun: K. Jaspers. München 1985
- J. Speck (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart V. Göttingen 1982
- F. Zimmermann: Einführung in die Existenzphilosophie. Darmstadt 31992.
FPB
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