Metzler Lexikon Philosophie: Fremderfahrung, Fremdich
Das Problem der F. wurde in zweifacher Hinsicht virulent. Zum einen stellte sich der philosophischen Hermeneutik mit dem Aufkommen der Geisteswissenschaften als eines von den erklärenden Naturwissenschaften unterschiedenen, eigenständigen Wissenschaftsbereichs die Frage nach der richtigen Methode, um fremden Sinn zu verstehen. Andererseits rückte innerhalb der Wissenschaftstheorie die Thematik der »inter«-subjektiven Überprüfbarkeit von Objektivität beanspruchenden Aussagen ins Zentrum der Diskussion. – Beide Problemstellungen setzen schon die Möglichkeit intersubjektiv geteilten Sinns und intersubjektiver Geltung voraus. Diese, etwa von Kant in seiner Konzeption eines »Bewußtseins überhaupt« noch naiv unterstellte, Möglichkeit machte Husserl zum Gegenstand einer phänomenologischen Theorie der F. Von einem auf die Sphäre ureigener Sinnstiftung reduzierten, »primordialen« Bewusstsein ausgehend, versucht Husserl in mehreren Konstitutionsschritten den Sinn eines intersubjektiven Weltbewusstseins aufzubauen. Hierbei geht es nicht nur darum, die Möglichkeit eines anderen Bewusstseins (alter ego), sondern auch dessen Andersartigkeit bzw. Fremdheit als eines Fremdich aufzuweisen. Nach Meinung der meisten Interpreten scheitert Husserl an dieser Aufgabe, weil sich seine Annahme einer »analogisierenden Apperzeption« als inkonsistent erweist und zudem nicht eine Symmetrie der Weltperspektiven gewährleisten kann. Das Fehlschlagen der phänomenologischen Fremderfahrungstheorie ist letztlich auf das bewusstseinsphilosophische Subjekt-Objekt-Schema der Erkenntnis zurückzuführen, das ein Bewusstsein von sich und anderen als »Subjekthaftem« verhindert. – In Husserls später Phänomenologie der Lebenswelt einsetzende Umgestaltungen der phänomenologischen Reduktion bereiten hermeneutische und linguistische Transformationen der Theorie der F. vor, die einerseits von Heideggers sozialontologischen Analysen des Mitseins, andererseits von Wittgensteins Kritik der subjektphilosophischen Vorstellung einer Privatsprache ausgehen. Sie stützen sich zumeist auf das Argument eines präreflexiv immer schon geteilten lebensweltlichen Wissens. Einflussreich ist u.a. Merleau-Pontys Theorie der F. geworden, die intersubjektiven Sinn im Ausgang von der interpersonalen Leibbeziehung rekonstruiert. – An Peirce’s Entdeckung, dass jede Erkenntnis als zeichenvermittelte auf eine unbegrenzte Interpretationsgemeinschaft verweist, knüpft die Universal- und Transzendentalpragmatik (Apel, Habermas) an. In der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation und Argumentation zeige sich, dass sinnvolles Reden voraussetzt, dass wir alle potentiellen Kommunikationspartner als gleichberechtigte Andere anerkennen. Jedes Denken beziehe sich notwendigerweise auf die reale Kommunikationsgemeinschaft als Instanz für seinen verständlichen Sinn und auf die ideale Argumentationsgemeinschaft als Instanz für seine Gültigkeit.
Literatur:
- K.-O. Apel: Transformation der Philosophie. Frankfurt 1973
- J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt 1981
- M. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1986
- E. Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Hua I. Den Haag 1950
- Ders.: Phänomenologie der Intersubjektivität. 3 Bde. Hua XIII-XV. Den Haag 1973
- M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966
- Ch. S. Peirce: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus. Frankfurt 1991
- J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts. Reinbek 1991
- M. Theunissen: Der Andere. Berlin/New York 1977
- B. Waldenfels: Topographie des Fremden. Frankfurt 1997
- Ders.: Sinnesschwellen. Frankfurt 1999.
HGR
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