Metzler Lexikon Philosophie: Gegenstandstheorie
nach A. Meinong die allgemeine »Wissenschaft vom reinen Gegenstand«, vom »Gegenstand als solchem«. Den Begriff Gegenstand zu definieren ist nicht möglich, denn Gegenstand ist alles – Wirkliches, Unwirkliches, Unmögliches –, was »erfaßt werden kann«, worauf sich irgendein intentionaler Akt richten kann. Dem Vorurteil zugunsten der Wirklichkeit entgegentretend, grenzt Meinong die G. von der Metaphysik ab. Sie ist aber auch von der Logik sowie von der Erkenntnistheorie und der Psychologie unterschieden, denn der Gegenstand eines intentionalen Aktes ist diesem Akt vorgegeben und von ihm unabhängig.
Gegenstände lassen sich unterteilen in seiende und nicht-seiende. (1) Die seienden weisen zwei Seinsweisen auf: (räumlich/zeitliche) Existenz oder (zeitlosen) Bestand. Existenz schließt Bestand ein, nicht aber umgekehrt. Existierend sind die wirklichen, wahrnehmbaren Gegenstände (Tische, Bäume, etc.). Bestehend sind alle idealen Gegenstände (z.B. mathematische Gegenstände) und die sog. Gegenstände höherer Ordnung, d.h. solche, die – wie Relationen und Komplexionen – auf Gegenständen niederer Ordnung aufbauen. – (2) Die nicht-seienden (außerseienden) Gegenstände sind solche, die weder existieren noch bestehen: Gegenstände, die, obwohl sie keinen Widerspruch in sich enthalten, faktisch nicht sind (z.B. der goldene Berg), und Gegenstände, die unmöglich sind, entweder weil sie widersprüchlich (z.B. das runde Viereck) oder in gewisser Hinsicht »unvollständig« sind, d.h., gewisse Bestimmungen weder haben noch entbehren (z.B. Begriffsgegenstände oder poetische Fiktionen wie Schneewittchen, das nur die Bestimmungen hat, die ihm die Erzählung zuspricht). Da also die Existenz kein Kriterium für die Bestimmung des Gegenstandes darstellt – der Gegenstand als solcher ist »jenseits von Sein und Nicht-Sein« –, nennt Meinong die G. »daseinsfreie Wissenschaft«.
Dem Grundgedanken der Intentionalität folgend stellt Meinong den vier Klassen psychischer Grundgebilde des Vorstellens, Denkens, Fühlens und Begehrens die vier Gegenstandsklassen der Objekte, Objektive, Desiderative und Dignitative gegenüber. Für alle »Gegenstände höherer Ordnung« gilt das »Prinzip der obligatorischen Infima«: Jedes Superius fußt auf einem Gegenstand niederer Ordnung, der es fundiert. Z.B. baut das Objektiv Ein Baum existiert auf dem Vorstellungsobjekt Baum auf. Nur Objekte können existieren. Gegenstände höherer Ordnung können bestenfalls bestehen. Die Schichtung ist nach oben beliebig erweiterbar, nach unten dagegen durch die Infima geschlossen. – Objektive sind die Gegenstände des Denkens, das sich in Urteilen und Annahmen artikuliert. Objektive unterteilen sich in Daseinsobjektive (von der Form A ist) und Soseinsobjektive (A ist B). Beide Arten können unabhängig voneinander einem Objekt zugeschrieben werden. Selbst von unmöglichen Gegenständen kann ein Soseinsobjektiv ausgesagt werden, z.B. das Rundsein vom runden Quadrat (Prinzip der Unabhängigkeit des Soseins vom Dasein). Den Objektiven analog sind Dignitative und Desiderative zu deuten. Zu den Ersteren zählt Meinong das Wahre, das Schöne und das Gute; zu den Letzteren Sollen und Zweck.
Durch die positive Würdigung, aber zugleich scharfe Kritik von B. Russell wurde die G. besonders in der angelsächsischen Philosophie rezipiert. In der analytischen Diskussion sind Meinongs »heimatlose Gegenstände« Ausgangspunkt für die Entwicklung der heutigen formalen Semantik und freien Logik.
Literatur:
- J. N. Findlay: Meinong’s Theory of Objects and Values. Oxford 21962
- A. Meinong: Über Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältnis zur inneren Wahrnehmung (1899), Gesamtausgabe (= GA) II. Hg. v. R. Haller/R. Kindinger/R. M. Chisholm. Graz 1968–78. S. 481–536; Über Annahmen (1902, 21910), GA IV; Über Gegenstandstheorie (1904), GA II.S. 481–536; Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften (1907), GA V.S. 197–365
- M. Stock/W. Stock: Psychologie und Philosophie der Grazer Schule (Internationale Bibliographie zur Österreichischen Philosophie). 2 Bde. Amsterdam 1990.
MA
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