Metzler Lexikon Philosophie: Geisteswissenschaft
Sammelbezeichnung für eine Gruppe inhaltlich und methodisch durchaus unterschiedener Wissenschaften, die allerdings allesamt der Erforschung der verschiedenen Aspekte der menschlichen Realität dienen. Diese im deutschen Begriff verschleierte Gemeinsamkeit wird in dem englischen Pendant »humanities« (Wissenschaften vom Menschen) deutlicher. Der Begriff G. ist eine Prägung des 19. Jh. und erhielt vor allem durch seine systematische Verwendung bei Dilthey als Gegenbegriff zu »Naturwissenschaft« eine große Bedeutung. Gelegentlich wurde versucht, diesem inhaltlichen Gegensatzpaar auch eine methodologische Entsprechung beizugesellen. So prägte W. Windelband den Gegensatz von idiographischen (historischen) G.en und nomothetischen (gesetzesorientierten) Naturwissenschaften. Doch ist diese methodologische Variante der Entgegensetzung fragwürdig, weil es auch gesetzesorientierte G.en (z.B. bestimmte Formen der Psychologie und Soziologie) gibt; ferner auch deswegen, weil sich kein streng systematischer Gegensatz zwischen historischer Forschung und Gesetzesorientierung konstruieren lässt. Auch eine historische Erklärung impliziert in aller Regel die Bezugnahme auf Gesetzmäßigkeiten und Regelhaftes (etwa psychologische Gesetze und anthropologische Konstanten). Historische Forschung ist deshalb nur in dem Sinne den nomothetischen Wissenschaften entgegenzusetzen, dass ihr Erkenntnisziel nicht die Formulierung einiger weniger möglichst einfacher und möglichst allgemeiner Gesetze ist, mit deren Hilfe die ganze menschliche Realität zu erklären und zu prognostizieren wäre. Der historischen Forschung käme es in diesem Sinne vielmehr darauf an, singuläre Ereignisse als solche – etwa durch das Erzählen einer Geschichte – zu verstehen, statt sie als (entindividualisierte) »Fälle« allgemeiner Gesetzmäßigkeiten zu erklären. In diesem moderaten Sinne sind innerhalb der G.en historische und nicht-historische G.en (etwa »systematische«) zu unterscheiden. Zu den Ersteren gehören alle Formen der historischen Forschung einschließlich der Kunst- und Literaturgeschichtsschreibung, zu den Letzteren dagegen die mit den statistischen Methoden der nomothetischen Wissenschaften arbeitenden Disziplinen der Psychologie und der Soziologie. Allerdings gibt es auch Formen der Soziologie und Psychologie, die eher historisch arbeiten und sich deshalb als hermeneutische (»verstehende« – im Gegensatz zu »erklärenden«) Wissenschaften verstehen. Die historischen G.en werden gelegentlich auch unter der Sammelbezeichnung »Geistesgeschichte« erfasst. Dieser Terminus umfasst alle geisteswissenschaftlichen Tätigkeiten, deren Aufgabe die Erfassung des intellektuellen Erbes einer Kultur ist. Normalerweise werden diese nicht in einer eigenständigen Disziplin ausgeübt, sondern realisieren sich als das Gesamt der historischen Bemühungen um die Tradierung von Ideen, Ideensystemen, Argumentationen und Problemen. Im angelsächsischen Sprachbereich wird Geistesgeschichte daher auch treffend – wenngleich zu eng – als »history of ideas« bezeichnet.
Literatur:
- Th. Bodammer: Philosophie der Geisteswissenschaften. Freiburg 1987
- A. Bühler: Bedeutung, Gegenstandsbezug, Skepsis: Sprachphilosophische Argumente zum Erkenntnisanspruch der Geistes- und Sozialwissenschaften. Tübingen 1987
- W. Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883). In: Ges. Schriften Bd. 1. Göttingen 81979
- H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 1960
- A. O. Lovejoy: The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea. Cambridge/Mass. 1936
- J. Mittelstraß: Die Wahrheit des Irrtums: Über das schwierige Verhältnis der Geisteswissenschaften zur Wahrheit und über ihren eigentümlichen Umgang mit dem Irrtum. Konstanz 1989
- W. Windelband: Geschichte und Naturwissenschaften. In: Präludien Bd. 2. Tübingen 1921.
RL
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