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Metzler Lexikon Philosophie: Geschichtsphilosophie

die philosophische Deutung der Geschichte auf ihren Sinn oder ihr Ziel hin, ihre Erklärung durch allgemeine Gesetze, sowie die wissenschaftstheoretische Erörterung der Methoden der Geschichtsschreibung. – Als Vorläufer der G. kann die christliche Geschichtstheologie betrachtet werden. Augustinus (De civitate Dei) sieht in der Geschichte den Kampf zweier Reiche am Werk: des Gottesstaates und des Erdenstaates. Dem entsprechen zwar Kirche und Staat als äußere Erscheinungsformen, jedoch finden sich in beiden auch Vertreter der anderen geistigen Ordnung. In der realen Geschichte besteht daher immer ein Ineinander beider Reiche, bis sie am Ende der Zeiten getrennt werden und der Gottesstaat als Sieger hervorgeht. Joachim von Fiore deutet die Geschichte als Abfolge dreier, der christlichen Trinität entsprechenden, Epochen: das Reich des Vaters (im AT durch das Gesetz repräsentiert), das des Sohnes (bestehend durch die Kirche) und das des Heiligen Geistes, das noch aussteht. – Während die ma. Geschichtstheologie geprägt ist durch die Heilserwartung und dem durch die Vorsehung Gottes bestimmten Ablauf der Geschichte, sieht die neuzeitliche G. Geschichte als Werk des Menschen. Für Vico ist die Geschichte daher vor der Natur bevorzugter Gegenstand der menschlichen Erkenntnis, da der Mensch sie aus den Prinzipien seines eigenen Geistes begreifen kann, insofern er sie selbst hervorgebracht hat. Vico will die ideale Geschichte der ewigen Gesetze erforschen, nach denen sich Entstehen, Fortschritt und Niedergang der Völker vollzieht. Dabei unterscheidet er drei Stadien des Aufstiegs vom Zeitalter der Götter über das der Heroen hin zu dem der Menschen. Schließlich bewirkt Luxus und Sittenlosigkeit den Abstieg und Verfall einer Kultur. Die Aufklärung betrachtet Geschichte allgemein als einen Fortschritt der Vernunft hin zur Entfaltung der Freiheit. Kant (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784) sieht im Antagonismus der ungeselligen Geselligkeit des Menschen die treibende Kraft, sich seiner Vernunft und Freiheit zu bedienen, um die vollkommene bürgerliche Gesellschaft zu errichten. Während Kant die Geschichte allein aus den menschlichen Handlungen heraus begriffen sehen will, betont Herder (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1784–91) die Einbettung der geschichtlichen Entwicklung in die natürlichen Faktoren eines organischen Geschehens, in dem die Menschheit sich hin zur Humanität entwickelt. Die G. muss dabei jede Epoche und jedes Volk aus sich selbst heraus begreifen und nicht den selbstgerechten Maßstab der eigenen Aufgeklärtheit ansetzen. Hegels G. (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, hg. 1837) liegt der Gedanke zugrunde, »daß die Vernunft die Welt beherrscht, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist.« Das Ziel der Geschichte ist, dass der Geist zum Wissen seiner selbst gelangt, indem er sich selbst verobjektiviert und als Wirklichkeit in der Welt hervorbringt. Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, und diesem Ziel werden einzelne Individuen zum Opfer gebracht. Die Staatsmänner und welthistorisch bedeutenden Persönlichkeiten wähnen nur, ihre eigenen Zwecke zu verfolgen, in Wirklichkeit bedient sich die »List der Vernunft« ihrer, um das Ziel der Weltgeschichte zu verwirklichen. Gegen den Fortschritt des Geistes, dessen bloßes Werkzeug der Mensch ist, betont Marx den Menschen als »Produzenten« seines Lebens, d.h. seiner eigenen Geschichte. Anstelle einer spekulativen Geschichtsmetaphysik soll sich G. auf die Wirklichkeit der konkreten historischen Lebensbedingungen und sozialen Verhältnisse gründen. – Die wesensmäßige Geschichtlichkeit des Menschen ist für Dilthey der Grund, weshalb der Mensch sich nur in dem erkennen kann, was er selbst hervorgebracht hat. Was der Mensch ist, sagt ihm seine Geschichte, da sie die Verwirklichung dessen ist, was an bloßen Möglichkeiten in ihm liegt. – Universalhistorische Entwürfe finden sich im 20. Jh. erneut wieder bei O. Spengler, A. J. Toynbee und Jaspers. Letzterer (Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 1949) versucht die Einseitigkeit christlich-abendländischer Geschichtskonzeptionen durch eine universal gültige Betrachtung zu ersetzen, indem er in der »Achsenzeit« den entscheidenden weltgeschichtlichen Umbruch sieht, der von 800–200 v. Chr. gleichzeitig in China, Indien, Iran, Palästina und Griechenland stattfindet. Die dort in Gang gekommene Entwicklung bildet die geistige und materiale Grundlage für eine gemeinsame Menschheitsgeschichte, die aufgrund der technischen Entwicklung im 20. Jh. faktisch möglich geworden ist. – Th. Lessing vertritt in seiner Schrift Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (1919) einen pessimistischen Standpunkt. Jede Geschichtsschreibung bietet nur eine im Nachhinein vollzogene Umdeutung der an sich völlig willkürlichen Fakten in Form eines idealen Vernunftkonstrukts. – Die Methodologie der Geschichtsschreibung wird im Neukantianismus zum Thema. Gegenüber den Naturwissenschaften kommt der Geschichtsschreibung (wie den Geisteswissenschaften

überhaupt) Eigenständigkeit zu, insofern sie nicht nomothetisch (Gesetze aufstellend), sondern idiographisch ist, d.h. sie bezieht sich auf das individuelle, einmalig Vorkommende. – Die analytische G. kritisiert, dass die traditionellen G.en methodisch ungeprüft sind und mehr von der Intuition des Autors abhängen. Dagegen ist erst einmal zu klären, wie historische Erkenntnis durch überprüfbare Theorien gesichert werden kann.

Literatur:

  • K. Acham: Analytische Geschichtsphilosophie. Freiburg/München 1974
  • E. Angehrn: Geschichtsphilosophie. Stuttgart 1991
  • K. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart 1953 u.ö
  • R. Schaeffler: Einführung in die Geschichtsphilosophie. Darmstadt 1973.
  • Die Autoren
AA Andreas Arndt, Berlin
AB Andreas Bartels, Paderborn
AC Andreas Cremonini, Basel
AD Andreas Disselnkötter, Dortmund
AE Achim Engstler, Münster
AG Alexander Grau, Berlin
AK André Kieserling, Bielefeld
AM Arne Malmsheimer, Bochum
AN Armin Nassehi, München
AR Alexander Riebel, Würzburg
ARE Anne Reichold, Kaiserslautern
AS Annette Sell, Bochum
AT Axel Tschentscher, Würzburg
ATA Angela T. Augustin †
AW Astrid Wagner, Berlin
BA Bernd Amos, Erlangen
BBR Birger Brinkmeier, Münster
BCP Bernadette Collenberg-Plotnikov, Hagen
BD Bernhard Debatin, Berlin
BES Bettina Schmitz, Würzburg
BG Bernward Gesang, Kusterdingen
BI Bernhard Irrgang, Dresden
BK Bernd Kleimann, Tübingen
BKO Boris Kositzke, Tübingen
BL Burkhard Liebsch, Bochum
BR Boris Rähme, Berlin
BS Berthold Suchan, Gießen
BZ Bernhard Zimmermann, Freiburg
CA Claudia Albert, Berlin
CH Cornelia Haas, Würzburg
CHA Christoph Asmuth, Berlin
CHR Christa Runtenberg, Münster
CI Christian Iber, Berlin
CJ Christoph Jäger, Leipzig
CK Christian Kanzian, Innsbruck
CL Cornelia Liesenfeld, Augsburg
CLK Clemens Kauffmann, Lappersdorf
CM Claudius Müller, Nehren
CO Clemens Ottmers, Tübingen
CP Cristina de la Puente, Stuttgart
CS Christian Schröer, Augsburg
CSE Clemens Sedmak, Innsbruck
CT Christian Tewes, Jena
CZ Christian Zeuch, Münster
DG Dorothea Günther, Würzburg
DGR Dorit Grugel, Münster
DH Detlef Horster, Hannover
DHB Daniela Hoff-Bergmann, Bremen
DIK Dietmar Köveker, Frankfurt a.M.
DK Dominic Kaegi, Luzern
DKÖ Dietmar Köhler, Witten
DL Dorothea Lüddeckens, Zürich
DP Dominik Perler, Berlin
DR Dane Ratliff, Würzburg und Austin/Texas
EE Eva Elm, Berlin
EJ Eva Jelden, Berlin
EF Elisabeth Fink, Berlin
EM Ekkehard Martens, Hamburg
ER Eberhard Rüddenklau, Staufenberg
EWG Eckard Wolz-Gottwald, Davensberg
EWL Elisabeth Weisser-Lohmann, Bochum
FBS Franz-Bernhard Stammkötter, Bochum
FG Frank Grunert, Basel
FPB Franz-Peter Burkard, Würzburg
FW Fabian Wittreck, Münster
GK Georg Kneer, Leipzig
GKB Gudrun Kühne-Bertram, Ochtrup
GL Georg Lohmann, Magdeburg
GM Georg Mildenberger, Tübingen
GME Günther Mensching, Hannover
GMO Georg Mohr, Bremen
GN Guido Naschert, Tübingen
GOS Gottfried Schwitzgebel, Mainz
GS Georg Scherer, Oberhausen
GSO Gianfranco Soldati, Tübingen
HB Harald Berger, Graz
HD Horst Dreier, Würzburg
HDH Han-Ding Hong, Düsseldorf
HG Helmut Glück, Bamberg
HGR Horst Gronke, Berlin
HL Hilge Landweer, Berlin
HND Herta Nagl-Docekal, Wien
HPS Helke Pankin-Schappert, Mainz
HS Herbert Schnädelbach, Berlin
IR Ines Riemer, Hamburg
JA Johann S. Ach, Münster
JC Jürgen Court, Köln
JH Jörg Hardy, Münster
JHI Jens Hinkmann, Bad Tölz
JK Jörg Klawitter, Würzburg
JM Jörg F. Maas, Hannover
JOP Jeff Owen Prudhomme, Macon/Georgia
JP Jörg Pannier, Münster
JPB Jens Peter Brune
JQ Josef Quitterer, Innsbruck
JR Josef Rauscher, Mainz
JRO Johannes Rohbeck, Dresden
JS Joachim Söder, Bonn
JSC Jörg Schmidt, München
JV Jürgen Villers, Aachen
KDZ Klaus-Dieter Zacher, Berlin
KE Klaus Eck, Würzburg
KG Kerstin Gevatter, Bochum
KH Kai-Uwe Hellmann, Berlin
KHG Karl-Heinz Gerschmann, Münster
KHL Karl-Heinz Lembeck, Würzburg
KJG Klaus-Jürgen Grün, Frankfurt a.M.
KK Klaus Kahnert, Bochum
KRL Karl-Reinhard Lohmann, Witten
KS Kathrin Schulz, Würzburg
KSH Klaus Sachs-Hombach, Magdeburg
LG Lutz Geldsetzer, Düsseldorf
LR Leonhard Richter, Würzburg
MA Mauro Antonelli, Graz
MB Martin Beisler, Gerbrunn
MBI Marcus Birke, Münster
MBO Marco Bonato, Tübingen
MD Max Deeg, Cardiff
MDB Matthias Bloch, Bochum
ME Michael Esfeld, Münster
MFM Martin F. Meyer, Koblenz/Landau
MK Matthias Kunz, München
MKL Martin Kleinsorge, Aachen
MKO Mathias Koßler, Mainz
ML Mark Lekarew, Berlin
MLE Michael Leibold, Würzburg
MM Matthias Maring, Karlsruhe
MN Marcel Niquet, Frankfurt a.M.
MQ Michael Quante, Köln
MR Mathias Richter, Berlin
MRM Marie-Luise Raters-Mohr, Potsdam
MS Manfred Stöckler, Bremen
MSI Mark Siebel, Hamburg
MSP Michael Spang, Ellwangen
MSU Martin Suhr, Hamburg
MW Markus Willaschek, Münster
MWÖ Matthias Wörther, München
NM Norbert Meuter, Berlin
OB Oliver Baum, Bochum
OFS Orrin F. Summerell, Bochum
PE Peter Eisenhardt, Frankfurt a.M.
PCL Peter Ch. Lang, Frankfurt a.M.
PK Peter Kunzmann, Jena
PN Peter Nitschke, Vechta
PP Peter Prechtl †
RD Ruth Dommaschk, Würzburg
RDÜ Renate Dürr, Karlsruhe
RE Rolf Elberfeld, Hildesheim
REW Ruth Ewertowski, Stuttgart
RH Reiner Hedrich, Gießen
RHI Reinhard Hiltscher, Stegaurach
RK Reinhard Kottmann, Münster
RL Rudolf Lüthe, Koblenz
RLA Rolf-Jürgen Lachmann, Berlin
RM Reinhard Mehring, Berlin
RP Roland Popp, Bremen
RS Regina Srowig, Würzburg
RTH Robert Theis, Strassen
RW Raymund Weyers, Köln
SD Steffen Dietzsch, Berlin
SIK Simone Koch, Bochum
SP Stephan Pohl, Dresden
SZ Snjezana Zoric, Würzburg
TB Thomas Bausch, Berlin
TBL Thomas Blume, Dresden
TF Thomas Friedrich, Mannheim
TG Thomas Grundmann, Köln
TH Thomas Hammer, Frankfurt a.M.
TK Thomas Kisser, München
TM Thomas Mormann, Unterhaching
TN Thomas Noetzel, Marburg
TP Tony Pacyna, Jena
TW Thomas Welt, Bochum
UB Ulrich Baltzer, München
UT Udo Tietz, Berlin
UM Ulrich Metschl, München/Leonberg
VG Volker Gerhardt, Berlin
VM Verena Mayer, München
VP Veit Pittioni, Innsbruck
VR Virginie Riant, Vechta
WAM Walter Mesch, Heidelberg
WB Wilhelm Baumgartner, Würzburg
WH Wolfram Hinzen, Bern
WJ Werner Jung, Duisburg
WK Wulf Kellerwessel, Aachen
WL Winfried Löffler, Innsbruck
WM Wolfgang Meckel, Butzbach
WN Wolfgang Neuser, Kaiserslautern
WP Wolfgang Pleger, Cochem/Dohr
WS Werner Schüßler, Trier
WST Wolfgang Struck, Erfurt
WSU Wolfgang Schulz, Tübingen
WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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