Metzler Lexikon Philosophie: Gnosis
Bezeichnung für eine weitverbreitete Bewegung innerhalb vieler Religionen seit der Zeitenwende, die u.a. in Teile des frühen Christentums eindrang (so z.B. Basilides und Valentinus; greifbar u.a. in den Texten von Nag Hammadi), aber auch heftig bekämpft wurde. Ihr Ursprung ist immer noch umstritten: Ägypten, Iran, Indien oder das Christentum selbst werden als Quelle genannt. Die Themen und Motive der G. erweisen sich in der Religions- und Theologiegeschichte als langlebig und häufig wiederkehrend (z.B. Albigenser, 12. Jh.; in einigen heutigen religiösen Gruppen treten gnostische Momente wieder auf). Sie ist eine »von Anfang an bekämpfte, mehrfach ausgerottete und später ebenso gründlich wie vergeblich totgesagte Wiedergängerin der Ideen- und Religionsgeschichte« (Sloterdijk/Macho, S. 486). Die gleichzeitige Verwendung von G. und Gnostizismus kann dann der Unterscheidung von spätantiker Religiosität einerseits und Weiterwirkung und Renaissancen ihrer Vorstellungswelt andererseits dienen (ansonsten ist Gnostizismus die ältere Fachbezeichnung, vgl. Rudolph, 1975, S. IX). Klemens von Alexandrien zitiert die Gnostiker: »[Es ist] die G. [wahre Erkenntnis], die befreit: Wer waren wir, was sind wir geworden? Wo waren wir, wohinein sind wir geworfen? Wohin eilen wir, wovon werden wir erlöst? Was ist Geburt, was Wiedergeburt?« Kennzeichnend für die G. ist ein metaphysischer und anthropologischer Dualismus zwischen dem Geistigen und Leiblichen bzw. der Materie überhaupt. Die materielle Welt ist Folge eines kosmischen »Absturzes« oder das Werk eines bösen Demiurgen. »Die Welt ist alles, was im Fall ist« (Sloterdijk/Macho, S. 39), oft durch eine Fülle von Zwischenreichen hindurch. Den kosmischen Spalt zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen füllt oft eine Reihe von Zwischenwesen. Als »Hereingefallene des Kosmos« (ebd, S. 47), die in ihre leiblichen Hüllen eingesperrt sind und die sich in einer (metaphysisch) bösen Welt finden, bewahren die Seelen der Menschen einen lichtvollen Kern ihres Ursprungs. Erlösung aus der irdischen »Entfremdung« und Rückkehr zur Lichtheimat in der Sphäre des Geistigen ist nur durch spekulativ-mystische Erkenntnis erreichbar. Häufig tritt eine Mittlergestalt in Erscheinung, die die Geheimnisse dieses höheren Wissens kundtut. – Als Beispiel der Naassenerpsalm, der Jesus in den Mund legt: »Von Übeln gesucht irrt auf der Erde, was von deinem [Gottes] Odem gekommen. ... ich will hinabsteigen, alle Äonen will ich durchwandern, alle Mysterien will ich erschließen ... und die Geheimnisse des heiligen Weges, Gnosis nenn’ ich’s, will ich kundtun«.
Literatur:
- H. Jonas: Gnosis und spätantiker Geist. I-II. Göttingen 31964
- P. Koslowski (Hg.): Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie. Zürich/München 1988
- K. Rudolph (Hg.): Gnosis und Gnostizismus. Darmstadt 1975
- K. Rudolph: Die Gnosis. Göttingen 31990
- P. Sloterdijk/Th. Macho: Weltrevolution der Seele. 2 Bde. Zürich 1991.
PK
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