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Metzler Lexikon Philosophie: Hermeneutik

Kunst der Interpretation von Texten, im weiteren Sinn des Verstehens von Sinngebilden aller Art, sowie die theoretische Reflexion auf die Methoden und Bedingungen des Verstehens. Als Vorläufer der H. kann die in der antiken Philosophie, besonders bei den Stoikern, angewandte allegorische Deutung von Texten (vor allem Homers und Hesiods) betrachtet werden. Zur eigenen Disziplin wird sie in der Patristik bei der Auslegung der Bibel. Origenes unterscheidet einen somatischen (buchstäblichen), psychischen (moralischen) und pneumatischen (geistlichen) Sinn der Schrift. In De doctrina christiana erörtert Augustinus das Problem, mit welchen Mitteln die »dunklen« Stellen der Heiligen Schrift aufgehellt werden können. Grundlegende Voraussetzung ist die innere Haltung des Interpreten, denn er muss mit Glaube und Liebe an die Schrift herangehen und so das hinter den Worten Liegende aufnehmen, die äußere Zeichen einer inneren Vernunft sind. Daneben gibt es aber einige Regeln, die hilfreich sind: der Vergleich unterschiedlicher Interpretationen und Übersetzungen, die Aufhellung unklarer Stellen durch betreffende klarere, die Berücksichtigung des historischen Kontextes. Eine Quelle von Fehlinterpretationen liegt in der Verwechslung von eigentlichem und übertragenem (metaphorischem) Sinn. – Während des MA. bleibt das Auslegungskriterium gebunden an die Tradition der christlichen Dogmatik. Dies ändert sich mit der Reformation. Luthers Schriftprinzip, wonach sich die Bibel selbst auslegt, und die philologischen Bemühungen des Humanismus führen zu einer von der Richtschnur der Dogmatik unabhängigeren und auch profane Texte einschließenden kritischen H. Wichtige Theoretiker in dieser Entwicklung sind M. Flacius, J. A. Ernesti und J. S. Semler.

Mit Schleiermacher wird die H. als eine universale Theorie des Verstehens begründet. H. gilt ihm als eine Kunstlehre des Verstehens, die auf die Bedingungen reflektiert, unter denen das Nachvollziehen von Lebensäußerungen möglich ist. Da jedes Zeugnis zugleich individuelle Leistung ist und einem allgemeinen Sprachsystem angehört, ergeben sich zunächst zwei Weisen der Auslegung: Die objektive versteht einen Text aus der Gesamtheit der Sprache, die subjektive aus der Individualität des Autors, der sich durch den Schaffensprozess einbringt. Hinzu kommt die Unterscheidung zwischen einem komparativen Verfahren, das Aussagen in ihrem sprachlichen und historischen Kontext vergleichend erschließt, und einem divinatorischen, das den Sinn intuitiv zu erfassen versucht. In der Auslegung wirken alle Formen ergänzend zusammen. – Unter der Problemstellung des Historismus wird die Schleiermacher’sche H. im 19. Jh. von A. Boeckh und J. G. Droysen aufgegriffen. Boeckh versteht die Aufgabe der Philologie als »Erkennen des Erkannten«. Diese Art des Verstehens rekonstruiert den (schriftlichen) Niederschlag eines Erkannten möglichst exakt, ohne dabei selbst produktiv zu sein. Aufgrund der Tatsache aber, dass ein Autor zumeist nur einen Teil seiner Erkenntnisse in seinem Werk zum Ausdruck bringt und darüber hinaus immer mehr enthalten ist, als ihm selbst bewusst ist, wird der Interpret über den vorliegenden Niederschlag hinaus durch reflexive Vertiefung weitergehende Gehalte freilegen. Für Droysen kann die Historik nur in den Stand einer Wissenschaft gelangen, wenn sie sich ihrer eigenen Methodik klar bewusst wird. Diese liegt in einem forschenden Verstehen, dessen Gegenstand aber nicht eine objektiv zugrundeliegende Tatsache ist, sondern bereits eine verstehende Auffassung eines wiederum Verstandenen. So liefert uns die Historie nicht das Bild eines Geschehenen an sich, sondern unserer zunehmend vertieften geistigen Auffassung davon. Der Leitfaden dieses Verstehens ist für Droysen die Vorstellung der Geschichte als einer fortschreitenden Entwicklung sittlicher Mächte (Religion, Moral, Recht). – Auch bei Dilthey, bei dem die H. im 19. Jh. ihren Höhepunkt erreicht, wird das Verstehen zur Grundlage der Geisteswissenschaft überhaupt. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften befassen sich die Geisteswissenschaften mit den Produkten, die der menschliche Geist selbst hervorgebracht hat. Deshalb ist Verstehen durch ein nachvollziehendes Erleben (Nacherleben) möglich, da die Objektivationen des Geistes Ausdruck eines solchen ursprünglichen Erlebens sind. Während sich das Verstehen auf alle Äußerungen des Seelenlebens richtet, wird der Begriff H. bei Dilthey für die »Kunstlehre des Verstehens schriftlicher Lebensäußerungen« verwendet.

Mit Heidegger gewinnt die H. eine neue Dimension. Verstehen ist für ihn nicht nur eine Erkenntnisweise oder Methode der Geisteswissenschaft, sondern eine Seinsbestimmung des Menschen. Das menschliche Dasein hat als solches den Charakter des »Verstehendseins«, wodurch ihm bereits ursprünglich eine vorwissenschaftliche Erschlossenheit von Welt zukommt. Daher ist die primäre Aufgabe die einer Analytik der Seinserschlossenheit des Daseins, als einer »H. der Faktizität«, wie Heidegger sie in Sein und Zeit durchgeführt hat. – Am wirkungsreichsten für die H. des 20. Jh. wurde Gadamers Wahrheit und Methode. Gadamer grenzt das Verstehen von dem Begriff einer in Regeln fixierbaren Methode ab und arbeitet den eigenständigen Erkenntnischarakter des Verstehens heraus, das im Unterschied zu naturwissenschaftlicher Erkenntnis nicht das Verhalten des Subjekts zu einem unabhängigen Gegenstand ist, sondern zum Sein dessen gehört, was verstanden wird. Er betont das jedem Verstehen inhärente Vorverständnis (»Vorurteil«). Der Interpret befindet sich immer schon in einem lebensweltlichen Zusammenhang, der von Überlieferung, Sprache und Situation geprägt ist. Verstehen ist das »Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln«. Im Verstehensprozess muss das jeweilige Vorverständnis gegenwärtig sein und einer kritischen Korrektur zugänglich. Bei jeder Interpretation tritt der normative Aspekt zum rein historischen hinzu. Der Interpret wird mit einem Wahrheitsanspruch konfrontiert, zu dem er Stellung nehmen muss, der seine eigene Gegenwart mitverändern kann und umgekehrt wächst einem Werk im Laufe der Wirkungsgeschichte ein neuer Sinn zu, weshalb man »anders versteht, wenn man überhaupt versteht.« – In kritischer Aufnahme Gadamers hat Habermas für die Sozialwissenschaften gezeigt, dass sie sich einer hermeneutischen Vermittlung der Situation, in der sie mit ihrem Gegenstand stehen, unterziehen müssen. Gegen den von ihm bei Gadamer gesehenen Vorrang des sprachlichen Überlieferungsgeschehens macht er geltend, dass Sprache auch ein Medium von Herrschaft und Macht ist, so dass sich die sprachlichen Interpretationen auch aufgrund der faktischen Verhältnisse wandeln. »Der objektive Zusammenhang, aus dem soziale Handlungen allein begriffen werden können, konstituiert sich aus Sprache, Arbeit und Herrschaft zumal« (Zur Logik der Sozialwissenschaften). Die Aneignung der Tradition muss für ihn somit ideologiekritisch sein. – P. Ricœur setzt die H. sowohl zum Strukturalismus als auch zur Psychoanalyse in Beziehung und untersucht das über Sprache, Symbole und Institutionen vermittelte Selbstverständnis des Menschen. Das Besondere seines Ansatzes liegt in einer Theorie des Verstehens nicht-sprachlicher Intentionalität (Handlungen) nach dem Modell der Interpretation von Texten (Narrativität).

Literatur:

  • W. Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften (Ges. Schriften. Bd. 1.) Stuttgart 1959
  • Ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Ges. Schriften. Bd. 7). Stuttgart 1958
  • H. G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 1960 u.ö
  • H. G. Gadamer/G. Boehm (Hg.): Seminar: Philosophische Hermeneutik. Frankfurt 31982
  • J. Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik. Darmstadt 1991
  • M. Heidegger: Sein und Zeit (Gesamtausgabe Bd. 2) Tübingen 1977
  • Hermeneutik und Ideologiekritik. Frankfurt 1971
  • H. Ineichen: Philosophische Hermeneutik. Freiburg/München 1991
  • H. Lenk: Philosophie und Interpretation. Frankfurt 1993
  • P. Ricœur: Zeit und Erzählung. 3 Bde. München 1988–1991
  • F. D. E. Schleiermacher: Hermeneutik. Hg. v. H. Kimmerle. Heidelberg 21974
  • H. Seiffert: Einführung in die Hermeneutik. Tübingen 1992.

FPB

  • Die Autoren
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AD Andreas Disselnkötter, Dortmund
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AM Arne Malmsheimer, Bochum
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AT Axel Tschentscher, Würzburg
ATA Angela T. Augustin †
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CA Claudia Albert, Berlin
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RLA Rolf-Jürgen Lachmann, Berlin
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RW Raymund Weyers, Köln
SD Steffen Dietzsch, Berlin
SIK Simone Koch, Bochum
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TH Thomas Hammer, Frankfurt a.M.
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TM Thomas Mormann, Unterhaching
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TP Tony Pacyna, Jena
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UB Ulrich Baltzer, München
UT Udo Tietz, Berlin
UM Ulrich Metschl, München/Leonberg
VG Volker Gerhardt, Berlin
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VP Veit Pittioni, Innsbruck
VR Virginie Riant, Vechta
WAM Walter Mesch, Heidelberg
WB Wilhelm Baumgartner, Würzburg
WH Wolfram Hinzen, Bern
WJ Werner Jung, Duisburg
WK Wulf Kellerwessel, Aachen
WL Winfried Löffler, Innsbruck
WM Wolfgang Meckel, Butzbach
WN Wolfgang Neuser, Kaiserslautern
WP Wolfgang Pleger, Cochem/Dohr
WS Werner Schüßler, Trier
WST Wolfgang Struck, Erfurt
WSU Wolfgang Schulz, Tübingen
WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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