Metzler Lexikon Philosophie: Historismus
Das seit Mitte des 19. Jh. gebräuchliche »H.« bezeichnet zunächst einen negativ besetzten Begriff, der sich polemisch gegen den Totalitätsanspruch der Geschichtswissenschaften und einen daraus resultierenden Relativismus des historischen Denkens richtet. Inspiriert ist die Kritik am H. wesentlich durch Nietzsche, der die Bezeichnung »Historizismus« zwar selbst in einer anderen, damals ebenfalls üblichen Bedeutung für die spekulative Geschichtstheorie Hegels verwendet, mit seinem Verdikt über die »historische Krankheit«, das »betäubende und gewaltsame Historisieren«, aber genau die Symptome benennt, die das Misstrauen in die historische Bildung evozierten. Durch Troeltsch (Der Historismus und seine Probleme) und vor allem durch Meineckes richtungsweisende Studie zur »Entstehung des Historismus« verliert der Ausdruck H. in der ersten Hälfte dieses Jh. seine ausschließlich negativen Konnotationen, ohne sich jedoch vollständig von ihnen befreien zu können. Nach Maßgabe eines Ideals strenger Wissenschaftlichkeit der Philosophie erneuert die Phänomenologie Husserls die Absage an den »Historizismus« als einer »erkenntnistheoretischen Verirrung«, ohne damit den »ungeheuren Wert der Geschichte im weitesten Sinne für den Philosophen« zu leugnen. Wie Troeltsch, der ausdrücklich unter dem Programm angetreten war, das Wort »H.« von »seinem schlechten Nebensinn völlig zu lösen«, versteht dagegen auch Meinecke den H. als einen Epochenbegriff für den seit der Aufklärung mit der Ablösung des naturrechtlichen Denkens einsetzenden Prozess der Herausbildung des historischen Bewusstseins. Zentral sind dabei nach Meinecke die paradigmatisch in der Geschichtsphilosophie Herders formulierten Kategorien der Individualität und der Entwicklung, die, zusammengenommen, die Menschheitsgeschichte als die universelle Realisierung der Humanität verstehen lassen, in der dennoch jede Stufe eine unverwechselbare Selbständigkeit besitzt. – Unabhängig sowohl von der Destruktion des H. als eines bloßen Relativismus wie von seiner Rehabilitierung ist der ideologiekritische Gebrauch des Ausdrucks »H.«, dessen Bandbreite sich exemplarisch an den konträren Positionen Benjamins und Poppers festmachen lässt. Während Benjamin dem H. als einer »Geschichtsschreibung der Sieger« den historischen Materialismus gegenüberstellt, sieht Popper gerade im Anspruch des Marxismus, Geschichte prognostizieren zu können, das »Elend des Historizismus«.
Literatur:
- H. G. Gadamer: Artikel »Historismus«. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (31957)
- K. Heussi: Die Krisis des Historismus. Tübingen 1932
- H. Lübbe: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie. Basel/Stuttgart 1977
- H. Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus. Freiburg/München 1974
- L. Strauss: Naturrecht und Geschichte. Stuttgart 1956.
DK
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