Metzler Lexikon Philosophie: Klugheit
die Fähigkeit, gesetzte Zwecke durch die realitätsgerechte Wahl angemessener Mittel zu realisieren. Obwohl K. immer schon in Form nützlicher Ratschläge gelehrt wurde, hat Aristoteles ihr als erster einen systematischen Platz in der Ethik angewiesen. Er begreift K. (Phronesis) als eine Verstandestugend, die als Grundhaltung dazu befähigt, »Mittel und Wege zum guten und glücklichen Leben« aufgrund richtiger Überlegung zu wählen. Die K. schreibt die Mittel zur Verwirklichung von Zielen vor, die der treffliche Charakter zuvor bestimmt hat. K. und sittliche Trefflichkeit sind daher eng miteinander verwoben. Weil K. im Unterschied zur Gerissenheit oder Verschlagenheit definitionsgemäß auf sittliche Ziele bezogen ist, kann sie nicht ethisch indifferent sein. Als eine Art praktischer Vernunft zielt K. nicht auf das Allgemeine und Unveränderliche – wie die wissenschaftliche Erkenntnis oder die philosophische Weisheit –, sondern auf das je Besondere einer Situation, sie zielt auf das, was handelnd veränderbar ist und was es zweckgerichtet handelnd zu verändern gilt. Insofern erfordert K. vor allem praktische Erfahrung, die mit dem Einzelnen vertraut macht und sich schließlich in unterschiedlichen Praxisfeldern bewähren muss: Der K. bedarf es sowohl bei der Sorge um das eigene wie bei der Sorge um das gemeine Wohl. Daher ist K. ausdrücklich mit Politik verknüpft. – Thomas von Aquin beschreibt K. (prudentia) als »genetrix virtutum«: indem sie die Mittel für die Verwirklichung sittlicher Ziele auffindet und umsetzt, ist sie die notwendige Realisierungsbedingung aller anderen Tugenden. So kann der Gerechte nur gerecht sein, wenn er zugleich klug ist. K. ist insofern in allen anderen Tugenden unterstützend wirksam. In einem dreifachen Akt von überlegen (»consiliari«), urteilen (»judicare«) und gebieten (»praecipere«) erreicht sie die Vermittlung von Allgemeinem, den Grundsätzen der Vernunft bzw. den normativen Anforderungen der Sittlichkeit, und dem Besonderen der jeweiligen Gegebenheiten.
Nach der Erosion der traditionalen Ordnung des MA. gewannen K. und K.lehre erneut an Attraktivität. Man versprach sich von ihr Anleitung und Hilfe bei der rationalen und effizienten Gestaltung von z.T. ganz neuen Handlungsbereichen. Dabei ist eine Auflösung der ohnehin stets prekär gebliebenen Beziehung zwischen Moral und K. zu beobachten. So legte Machiavelli mit II principe (1532) eine jenseits religiöser und ethischer Bindungen angesiedelte K.-Lehre fürstlichen bzw. staatlichen Handelns vor, und Baltasar Gracián publizierte mit dem Oráculo manual y arte de prudencia (1647), ebenfalls ohne die Berücksichtigung ethischer oder religiöser Normen, eine auf die Belange des Einzelnen zugeschnittene Privatklugheit. – Die an Praxis orientierte deutsche Aufklärungsphilosophie baute die Unterscheidung zwischen Staatsklugheit (Politik) und Privatklugheit weiter aus, mochte die Bindung der K. an Moral jedoch nicht ohne weiteres preisgeben. Allerdings kommt es bereits bei Chr. Thomasius zu einer deutlichen Veräußerlichung der K., indem er zwar einerseits die Zusammengehörigkeit von Weisheit (Ethik) und K. betont, ihnen andererseits aber unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche zuweist: Mit der Weisheit sollen die »innerlichen Hindernisse der Glückseligkeit« (Affekte und Leidenschaften) bekämpft und mithilfe der K. sollen ihre »äußerlichen Hindernisse« beseitigt werden. Die damit angestrebte »äußerliche Glückseligkeit« umfasst bei Heumann ausdrücklich die angemessene Versorgung mit materiellen Gütern (»mittelmäßiger Reichthum«), gesellschaftliche Anerkennung (»mittelmäßige Ehre«) sowie »mittelmäßige Ergetzlichkeiten«. Die durch K. zu realisierenden Zwecke brauchten schließlich auch nicht im eigentlichen Sinne ethisch wertvoll zu sein; es reichte, wenn sie »rechtschaffen« (Walch) oder »rechtmäßig« (Musig) waren, wenn wenigstens »unsträfliche Absichten« (Gottsched) vorlagen oder sie niemanden beeinträchtigten (v.Rohr). – Kant bestätigte zwar, dass »die Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten Wohlsein« K. genannt werden kann, doch ist Glückseligkeit für Kant kein Prinzip der Sittlichkeit mehr. Die Ratschläge der K. sind nur noch »pragmatische Imperative«, die nicht wie die moralischen Gebote der Sittlichkeit als kategorische Imperative unbedingte und objektive Gültigkeit beanspruchen können, sondern davon abhängig sind, was vom Einzelnen je subjektiv zufällig zur eigenen Glückseligkeit gerechnet wird. Mit dieser prinzipiellen Trennung von K. und Moral geht die ethische Disqualifizierung der K. einher; der rein technische Teil ihrer ursprünglichen Leistung ist später in M. Webers Begriff der Zweckrationalität übergegangen.
Neuere Bemühungen orientieren sich weitgehend an antiken bzw. scholastischen Vorbildern (Pieper, Den Uyl) oder versuchen die K. innerhalb eines utilitaristischen Moralkonzepts fruchtbar zu machen (Hare). Im »praktischen Rationalismus« Th. Nagels kommt der K. eine entscheidende Funktion für eine anvisierte »Metaphysik der Person« zu: K. ist in erster Linie durch Voraussicht gekennzeichnet, die auf die Zukunft reflektiert und so auf die Motive gegenwärtigen Handelns einwirkt. K. drückt damit die Fähigkeit des Einzelnen aus, sich über Vergangenheit und Zukunft als identische Person wahrzunehmen.
Literatur:
- Aristoteles: Eth. Nic. Buch VI
- P. Aubenque: Der Begriff Klugheit bei Aristoteles. Hamburg 2007
- R. M. Hare: Moralisches Denken. Frankfurt 1992
- C. A. Heumann: Der Politische Philosophus. Frankfurt/Leipzig 1714
- I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- W. Kersting: Klugheit. Weilerswist 2005
- A. Luckner: Klugheit. Berlin u. a. 2005
- T. Nagel: The Possibility of Altruism. Oxford 1970
- J. Pieper: Traktat über die Klugheit. München 71965
- Thomas von Aquin: S.th. II-II, 47–56
- Chr. Thomasius: Kurtzer Entwurf der Politischen Klugheit. Frankfurt/Leipzig 1710
- D. J. Den Uyl: The Virtue of Prudence. New York 1991.
FG
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