Metzler Lexikon Philosophie: Kritische Theorie
Ihrem eigenen Selbstverständnis nach, das Horkheimer in dem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie formulierte, begreift sich die k. Th. als eine praktische Philosophie, der es um gesellschaftliche Veränderung in Richtung einer zunehmenden Selbstbestimmung des Menschen zu tun ist. Die Zukunft der Humanität hängt ihrer Ansicht nach davon ab, dass die Menschheit sich als bewusstes, d.h. selbstbestimmendes Subjekt konstituiert und die eigenen Lebensformen bestimmt. Einem solchen Anspruch steht die reale Praxis entgegen, in der die Menschen die Welt als objektive, scheinbar unveränderliche Gegebenheit annehmen. Andererseits ist offenkundig, dass diese scheinbar objektive Welt von den Menschen selbst erst konstituiert wird. Die gesellschaftliche Produktion verändert nicht nur die Welt, sondern auch unsere Sichtweisen und Erfahrungsweisen von Natur und Realität. Die Trennung Descartes’ in res extensa und res cogitans verdeckt diesen Zusammenhang, dass die Welt in gegenständlicher und begrifflicher Hinsicht von den Menschen produziert wird. Darin zeigt sich der eingeschränkte Sinn von Vernunft. Zur Entwicklung der Gesellschaft in Richtung einer bewussten Praxis, wie es der Idee der Selbstbestimmung entspricht, gehört aber das bewusst kritische Verhalten, das den Menschen befähigt, die bisherigen Vorstellungen von objektiver Wirklichkeit als falsche Einstellung zu durchschauen. Erst dadurch wird der Schritt zu bewussten Entscheidungen für sinnvolle Lebensformen möglich. Die k. Th. selbst beansprucht nicht, dem Menschen ein idealisiertes Gegenmodell der Realität zu entwerfen. Ihre Leistung besteht vielmehr in ihrem Beitrag zur Aufklärung. Kritisch verfährt diese philosophische Position (a) insofern, als sie den Objektivitätsglauben der Menschen als Selbstmissverständnis aufdeckt, (b) insofern sie die Grundbegriffe der Gesellschaft wie »gerechter Tausch« und »Harmonie der Interessen« aufnimmt und zum Maßstab der Beurteilung macht, ob in für die Gegenwart angemessenen Verhältnissen produziert wird, und (c) insofern sie den Wissenschaften gegenüber wieder das ihnen zugrundeliegende, in menschlichen Lebensformen begründete Erkenntnisinteresse in die Erinnerung zurückruft. Auf diese Weise leistet sie theoretische wie praktische Kritik. Durch ihren Verzicht auf utopische Gegenentwürfe einer vernünftigen Gesellschaft überantwortet sie den Subjekten den Schritt zur Selbstbestimmung. Darin vertraut sie noch auf den Hegel’schen Vernunftbegriff, der Wahrheit bzw. richtige Erkenntnis und richtiges Leben zu verbinden wusste.
Literatur:
- J. Habermas: Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt 1968. S. 146 ff
- M. Horkheimer: Kritische Theorie. Frankfurt 1968
- H. Marcuse: Philosophie und kritische Theorie. In: Kultur und Gesellschaft I. Frankfurt 1965. S. 102 ff
- A. Schmidt: Kritische Theorie als Geschichtsphilosophie. München 1976
- A. Wellmer: Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus. Frankfurt 1969.
PP
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