Metzler Lexikon Philosophie: Kultur
(lat. cultura, von colere: bebauen, pflegen), im weitesten Sinn alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt, im Unterschied zu der von ihm nicht geschaffenen und nicht veränderten Natur. Kulturleistungen können in der formenden Umgestaltung eines gegebenen Materials am Maßstab einer leitenden Idee bestehen, so in der Technik oder auch bildenden Kunst, oder in ideellen Formungen wie Moral, Recht, Religion, Wissenschaft, die sinngebend und gemeinschaftsorganisierend sind. Schließlich bedeutet K. in Bezug auf das Individuum die Einflussnahme auf die Entwicklung seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten. – K. bezieht sich so zum einen auf die Fähigkeit des Menschen, formend die Welt und sich selbst verändern und ideelle Sinn- und Handlungsmuster entwerfen zu können, als auch auf die Gesamtheit der Gestalt gewordenen Kulturleistungen, z.B. eines Volkes. Im ersteren Sinn bestimmt Kant K. als »die Tauglichkeit und Geschicklichkeit zu allerlei Zwecken« (KU § 83) sowie die Fähigkeit des Menschen, sich selbst Zwecke zu setzen und so eine unter der Idee der Moralität stehende menschliche Gemeinschaft hervorzubringen. Herder spricht von K. vor allem im Sinn der in der Geschichte organisch herangewachsenen Lebensform eines Volkes, die sich in Richtung wachsender Humanität entwickelt.
Die organischen Voraussetzungen der menschlichen Kulturleistungen sind gegeben mit der Unspezialisiertheit der Hand, die somit in der Lage ist, in offener und vielfältiger Weise differenziert mit Materialien umzugehen (Werkzeuggebrauch). Dies setzt wiederum die Freisetzung der Hand durch den aufrechten Gang und das aufeinander abgestimmte Zusammenspiel von Auge und Hand im Gesichtsfeld voraus. Damit einher geht die Vergrößerung des Gehirns, das zu einer komplexeren Informationsverarbeitung und -speicherung fähig ist. Die dem Menschen eigene Selbstbezüglichkeit seiner psychischen Akte setzen ihn in ein reflexives Verhältnis zu sich, von dem aus ihm sowohl seine eigene Innenwelt, als auch die Welt der äußeren Objekte als prinzipiell veränderbar und durch ihn beeinflussbar erscheint. Damit eröffnet sich ihm die entscheidende Kategorie des Möglichen. Aufgrund der symbolischen Repräsentation der Welt in der Sprache lassen sich die Verhältnisse nicht nur in ihrem faktischen Sosein, sondern auch in ihrem möglichen Andersseinkönnen vorwegnehmen und gleichsam experimentell neu zusammenstellen und durchspielen. Dies ermöglicht die Konstitution einer von konkreten materialen Bedingungen unabhängigen, ideellen Wirklichkeitssphäre, die mit anderen Individuen geteilt werden kann. Das Verhältnis des Menschen zu sich und seiner Umwelt besteht daher nicht in der eindeutigen, linearen Beziehung zu einem so und so Gegebenen, sondern ist dynamisch und offener Gestaltung fähig.
Für Plessner erfüllt die K. die Funktion, dem Menschen ein Gleichgewicht zu verschaffen, das ihm aufgrund seiner »exzentrischen« Organisationsform verwehrt ist (Positionalität, exzentrische). Die Kulturleistungen erfüllen dies, indem sie gegenüber dem Menschen eine objektive Eigenständigkeit gewinnen, die sinngebend ist und Selbstverständnis ermöglicht. In dem, was der Mensch selbst hervorgebracht hat, versteht er sich selbst, d.h. er tritt in ein Verhältnis zu sich. K. ist Ausdruck der geschichtlichen Weise seines Sich-selbst-Verstehens im Hervorbringen. Gegenstand des Verstehens sind die Ausdrucksformen, in denen sich geistiges Leben mitteilt, vom konkreten menschlichen Verhalten bis hin zu den kulturell-geschichtlichen Objektivationen. Für den einzelnen bedeutet K. als vorgefundene Wirklichkeit, dass er nicht je neu anfangen muss, sondern bereits auf einem tragenden und weiterführenden Grund steht. – Auch für Gehlen ist der Mensch von Natur aus auf K. angelegt, er muss eine K. als seine »zweite Natur« hervorbringen, um leben zu können. Von seiner biologischen Konstitution her fehlt dem Menschen im Unterschied zum Tier eine durchgängige Instinktsteuerung. Er muss daher die meisten für sein Leben notwendigen Fertigkeiten erst erwerben, weil sein Umweltbezug nicht von vorgegebenen Reiz-Reaktions-Schemata bestimmt ist. Diese Unspezialisiertheit ermöglicht ihm eine Vielzahl nicht festgelegter Verhaltensweisen im Umgang mit der Welt, erfordert aber, dass der Mensch sich die Bedingungen seines Lebens und Überlebens selbst schaffen muss. Aufgrund seiner Unspezialisiertheit und Weltoffenheit steht er einer Überfülle von Eindrücken, Handlungs- und Erklärungsmöglichkeiten gegenüber, die ihn verunsichern und überlasten würden, könnte er seine »erste Natur« nicht mit Hilfe einer von ihm gestalteten »zweiten Natur«, seiner K., bewältigen. In dieser handelnden Umgestaltung seiner Lebensbedingungen entwickelt sich der Mensch zugleich weiter, weil die so geschaffenen Kulturleistungen eine wiederum neue Welt und damit neue Aufgaben darstellen, an denen er sich bewähren kann. So entsteht nach und nach eine Hierarchie von Leistungen, die vom instrumentellen Umgang mit den Dingen bis zu den situationsentbundenen geistigen Schöpfungen reichen.
Durch seine K. tritt der Mensch in ein Verhältnis zu sich, in dem er das Ich seines Selbstbewusstseins selbst durch die Verkörperung in einem anderen zu einem Erkenntnisgegenstand macht. Dieser Verkörperungsvorgang bringt eine Dynamik gegensätzlicher Momente hervor: Zum einen bedeutet K. für den einzelnen eine Entlastung im Umgang mit der Welt, weil sie bestimmte erprobte Sinngebungs- und Handlungsmodelle bereitstellt. Zum anderen bedeutet K. eine Belastung, da ihre Eigendynamik, mit der sie komplexere und sich wandelnde Gebilde hervorbringt, erneute Anforderungen an das Sinnverstehen und den handelnden Umgang mit ihr stellt. Beide Momente zusammen bedingen die Entwicklungsmöglichkeit der K.: durch die Entlastung werden Handlungspotentiale, die nun nicht mehr der unmittelbaren Lebensbewältigung dienen müssen, frei für beliebige schöpferische Leistungen. Durch das bereits vorhandene Kulturniveau muss der Einzelne nicht von neuem anfangen, sondern kann auf dem Erreichten aufbauen.
Die Dynamik der Kulturentwicklung, die mit einer zunehmenden Komplexität verbunden ist, führt dazu, dass die Lebenswelt des Menschen zunehmend von ihm selbst hervorgebracht ist, er also überall mit den Produkten seiner eigenen Tätigkeit befasst ist. Cassirer bezeichnet K. als das symbolische Universum des Menschen, in dem er seine eigenen Werke vorfindet und über dessen symbolische Vermittlung allein er auch Zugang zur natürlichen Welt hat. »Der Mensch lebt in einem symbolischen und nicht mehr in einem bloß natürlichen Universum. ... Statt mit den Dingen selbst umzugehen, unterhält sich der Mensch in gewissem Sinne dauernd mit sich selbst. Er lebt so sehr in sprachlichen Formen, in Kunstwerken, in mythischen Symbolen oder religiösen Riten, dass er nichts erfahren oder erblicken kann, außer durch Zwischenschaltung dieser künstlichen Medien« (Was ist der Mensch? Stuttgart 1960. S. 39).
Da K. eine überindividuelle Objektivität darstellt, die wie alle komplexen Systeme eine Eigendynamik entwickelt, ist der Mensch nicht nur Schöpfer seiner K., sondern zugleich ihr Geschöpf (M. Landmann), insofern sie ihrerseits auf seine Lebensweise formend einwirkt. Dies zeigt sich z.B. an den Folgen moderner Technik und Industrialisierung. Während einfache technische Hilfsmittel noch auf die Unterstützung menschlicher Tätigkeiten ausgerichtet waren und diesen somit angepasst, verlangen bereits halbautomatische Maschinen (z.B. Fließband) umgekehrt die Anpassung der Menschen an ihren Produktionsablauf, d.h. sie integrieren ihn in ihre Struktur. Daraus ergeben sich Folgen für das Verhältnis des Menschen zu seiner Arbeit, für sein Selbstverständnis in Bezug auf sein Werk. Insgesamt folgt der Industrialisierung ein tiefgreifender Wandel in den sozialen Verhältnissen, eine Zerstörung alter und die Hervorbringung von neuen sozialen Strukturen. Indem der Mensch etwas von sich in die vorhandene Wirklichkeit einträgt, und somit neue und eigenständige Tatbestände schafft, erfährt er in deren Wirksamkeit etwas Neues über sich selbst, er betrachtet sich im Spiegel seiner Schöpfungen. Wenn so die Eigendynamik der Kulturleistungen fruchtbar werden kann, weil sie den Menschen weiterträgt auf etwas hin, das er selbst gar nicht planend hätte hervorbringen können, so zeigt sich die Kehrseite darin, dass die Entwicklung ihm entgleiten kann und seinen ursprünglichen Intentionen zuwider läuft. Ein weiteres Phänomen ist das der Sinnentfremdung, die entsteht, wenn K. so komplex, unüberschaubar und schnell wandelbar geworden ist, dass sie keine sinnvolle Lebensorientierung mehr ermöglicht.
Literatur:
- H. Brackert/F. Wefelmeyer (Hg.): Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur. Frankfurt 1984
- E. Cassirer: An Essay on Man. New Haven 1944 (dt. Versuch über den Menschen. Frankfurt 1990)
- J.G. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Riga/Leipzig 1784–1791 (Sämtl. Werke. Bd. XIII u. XIV, 1887 u. 1909. Reprint 1967)
- A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Bonn 1956 u.ö
- C.-F. Geyer: Einführung in die Philosophie der Kultur. Darmstadt 1994
- M. Landmann: Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. München/Basel 1961
- B. Malinowski: Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur. Frankfurt 31988
- H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin 1928 (Gesammelte Schriften. Bd. 4. Frankfurt 1981)
- F. Steinbacher: Kultur. Begriff, Theorie, Funktion. Stuttgart 1976.
FPB
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