Metzler Lexikon Philosophie: Leib-Seele-Problem
(auch »Körper-Geist-Problem«). Das Leib-Seele-Problem ergibt sich aus der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Körper und Geist des Menschen (und anderer höherer Lebewesen). Zum eigentlichen Problem wird diese Frage erst in ihrer neuzeitlichen Zuspitzung durch Descartes. Danach gehören zum geistigen (mentalen) Bereich alle Vorgänge im Bewusstsein (wie Gefühle oder Vorstellungen) und intentionale Einstellungen (z.B. Absichten, Überzeugungen). Ihnen steht auf der körperlichen Seite eine kausal geschlossene, in der Sprache der Physik vollständig beschreibbare Welt raumzeitlich ausgedehnter Gegenstände gegenüber. Da die geistigen Vorgänge Descartes zufolge nicht materiell sind, aber (den Erhaltungssätzen der Physik zufolge) nur Physisches (Materielles) auf anderes Physisches kausal einwirken kann, ergibt sich insbesondere das Problem, wie geistige Vorgänge eine kausale Rolle in körperlichen Vorgängen spielen können. – Man kann in ontologischer Hinsicht zwischen dualistischen und monistischen Lösungsversuchen des Leib-Seele-Problems unterscheiden, die sich weiter in interaktionistischen und nicht-interaktionistischen Dualismus einerseits und Idealismus, Materialismus und Zwei-Perspektiven-Theorien andererseits einteilen lassen:
Descartes selbst vertrat einen interaktionistischen Dualismus, indem er geistige und körperliche Eigenschaften zwei unterschiedlichen Substanzen (»res cogitans« und »res extensa«) zuordnete, die über ein besonderes Organ im Gehirn (»Zirbeldrüse«) und im Einklang mit den Gesetzen der Physik aufeinander kausal Einfluss nehmen sollten. Aufgrund der Inkonsistenz dieses Vorschlags wurden bald andere, nicht-interaktionistische Dualismen entwickelt: Der psychophysische Parallelismus besagt, dass Gott, entweder durch eine prästabilierte Harmonie (Leibniz) oder durch immer neue Eingriffe in die Natur (Malebranche), dafür sorgt, dass die körperlichen Vorgänge und unser geistiges Erleben auch ohne kausale Interaktion übereinstimmen. – Der Epiphänomenalismus ist dagegen der Auffassung, dass geistige von körperlichen Vorgängen kausal abhängen, aber nicht umgekehrt. – Den verschiedenen Emergenztheorien des Geistes zufolge sind geistige gegenüber körperlichen Eigenschaften »emergent«: sie beruhen auf ihnen, ohne auf sie reduzierbar zu sein. – Dagegen ist die These des Panpsychismus, dass alle Teile der Wirklichkeit sowohl körperliche als auch geistige Eigenschaften haben. Die drei letztgenannten Formen des Dualismus behaupten nicht, dass es zwei grundsätzliche Arten von Dingen oder Substanzen gibt, sondern unterscheiden zwei Arten von Eigenschaften oder Vorgängen. Während die Probleme des Dualismus darin liegen, den Zusammenhang zwischen Körper und Geist zu erklären, ergeben sich die Schwierigkeiten für den Monismus vor allem aus der Notwendigkeit, die Existenz entweder von Körper oder Geist leugnen zu müssen. Unter Idealismus versteht man in diesem Zusammenhang die (in unterschiedlicher Form z.B. von Berkeley und Hegel vertretene) These, dass nur Geistiges wirklich existiert, während es Körper nur als Inhalt geistiger Vorgänge »gibt«. – Dagegen bestreitet der heute weit verbreitete Materialismus die Existenz des Geistigen. Allerdings gelten die materialistischen Versuche, Aussagen über mentale Vorgänge auf solche über beobachtbares Verhalten zu reduzieren (logischer Behaviorismus) oder Typen mentaler mit Typen neuronaler Vorgänge zu identifizieren (Identitätstheorie), heute als gescheitert. Diskutiert werden dagegen der eliminative Materialismus, dem zufolge alle mentalistischen Aussagen auf einer falschen »alltagspsychologischen« Theorie beruhen, sowie verschiedene materialistische Versionen des Beschreibungsdualismus, dem zufolge bestimmte physische Ereignisse auch eine irreduzibel mentalistische Beschreibung zulassen (Davidson, Dennett). – Der z. Z. wohl am weitesten verbreitete Ansatz ist der Funktionalismus. Danach sind geistige Phänomene wie die Programmschritte eines Computers vollständig durch ihre funktionale Rolle (ihre Ursachen und Wirkungen) charakterisiert, so dass Wesen mit unterschiedlicher materieller Konstitution dennoch dieselben geistigen Eigenschaften haben können. Der Funktionalismus impliziert keine materialistische Position, legt sie aber nahe. – In Weiterentwicklung der Computeranalogie deutet der Konnektionismus geistige Eigenschaften nach dem Vorbild »parallel« verarbeitender Computer als Zustände neuronaler Netzwerke. – Schließlich gibt es verschiedene Theorien, denen zufolge die Wirklichkeit selbst gegenüber der Unterscheidung »geistig/körperlich« neutral ist, sich jedoch (vollständig oder in Teilen) sowohl als geistig als auch als körperlich beschreiben lässt (neutraler Monismus, »Dual-Aspect«-Theorien).
Im Anschluss an Ryle und Wittgenstein ist häufig die Auffassung vertreten worden, das gesamte Leib-Seele-Problem beruhe lediglich auf einem Missbrauch der Sprache. Andererseits aber haben neuere Ansätze in Psychologie, Neurowissenschaften, Informatik und Philosophie und deren Bündelung zur Cognitive science gerade in jüngster Zeit zu neuen Lösungsvorschlägen für dieses alte philosophische Problem geführt.
Literatur:
- P. Bieri: Analytische Philosophie des Geistes. Königstein 1981
- H. Hastedt: Das Leib-Seele-Problem. Frankfurt 1988
- W. Lycan (Hg.): Mind and Cognition. Oxford 1990.
MW
In der phänomenologischen Philosophie (Husserl, Scheler, Sartre, Plessner, Merleau-Ponty) wird der dualistischen Auffassung Descartes’ die These entgegengestellt, dass der Leib nicht bloß materielle Substanz ist. Während der Dualismus von der Alternative ausgeht, alles Seiende sei entweder Materie (d.i. physisch) oder Geist (d.i. psychisch), vertritt der phänomenologische Standpunkt die Auffassung, dass der Leib vom Körper (als rein materiellem Seiendem) zu unterscheiden ist. Der menschliche Leib wird von innen erlebt. Er ist als integraler Bestandteil des Bewusstseins zu verstehen. Wir nehmen den Leib nicht wie ein Objekt im Sinne eines Dinges wahr, sondern der Leib spielt als erlebter Leib selbst eine zentrale Rolle bei allen Sinneswahrnehmungen. Bei Husserl fungiert er als Orientierungspunkt der Wahrnehmung, bei Scheler und Husserl spielt er eine besondere Rolle bei der Konstitution der menschlichen Umwelt. Die von Merleau-Ponty eingeklagte Leibkomponente allen Sinns ist darin begründet, dass der eigene Leib als fungierender und lebendiger Leib Erfahrungen zustandebringt und dabei in der Erfahrung selbst gegenwärtig ist. Er ist einerseits allgemeines Medium zur Welt und zugleich ein Situiertsein in der Welt. Dies kommt prägnant in der mit dem Leib gegebenen Bewegungsintentionalität zum Ausdruck. Mit dem Leib ist ein Körperschema (und damit eine eigene Räumlichkeit) und ein eigenes sensomotorisches Erfahrungsfeld (in der Verschränkung von Gesichtsfeld und Handlungsfeld) verbunden. Das Phänomen der erlebten Leibes wird auch von Nagel und Whitehead geltend gemacht.
Literatur:
- P. Bieri: Analytische Philosophie des Geistes. Königstein 1981
- H. Hastedt: Das Leib-Seele-Problem. Frankfurt 1988
- W. Lycan (Hg.): Mind and Cognition. Oxford 1990.
PP
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