Metzler Lexikon Philosophie: Liberum arbitrium
»freie Wahlentscheidung«, »freier Wille«. Spätantike lat. Begriffsbildung, in die verschiedene griechische und christlich-theologische Vorgängerideen eingingen. Freiheit (libertas, eleuthería) war zunächst ein politisch-rechtlicher Terminus (der die Vollbürgerschaft sowie das Eingebundensein in die Gesetze der Polis bedeutete) und wurde erst in hellenistischer Zeit auch im Sinne von innerer Freiheit des Einzelnen bzw. Willensfreiheit verstanden. Aristoteles’ Abhandlung der allgemeinen Kennzeichen ethisch relevanter Handlungen (Eth. Nic. III, 1–7) benützt als Zentralbegriffe Willentliches bzw. Unwillentliches (hekousion/akousion), insbesondere aber überlegtes Entscheiden/Vorziehen (prohairesis) nach dem Mit-sich-zu-Rate-gehen (bouleuesthai), setzt also der Sache nach einen Begriff der Willensfreiheit als Bedingung sittlichen Handelns voraus. Die stoische Freiheitsauffassung als innere Freiheit von Affekten, Triebregungen und Zwängen durch Lebensumstände, durch die der Mensch zum Leben im Einklang mit dem logos-durchwalteten Kosmos und zur Entfaltung seiner eigentlichen Menschennatur gelangt, beruht ebenfalls auf der Fähigkeit der prohairesis. Aus den Ideen der Freiheit des Einzelnen, der Wahlfreiheit und wohl auch christlicher Sündenbegriffe entsteht im 1.-3. Jh. n.Chr. die Idee einer nicht kausal bestimmten Willensentscheidung. Die Wortprägung »L.a.« taucht – zunächst untechnisch und oft im rechtlichen Sinne – im römischen juristischen und eklektizistischen Schrifttum der ersten Jh. auf; als anthropologischer Terminus fassbar wird sie bei Tertullian (De anima 21; um 210), Laktanz (Institutiones II 9; um 310), Hieronymus (Adversus Pelagianos III 7; um 415) und insbesondere Augustinus (De libero arbitrio; 388–95). Gegen die Gnosis und den antiken Fatalismus betonen Augustinus u. a. Kirchenväter die Willensfreiheit als Ausdruck der geistigen Natur und Gottebenbildlichkeit des Menschen und die freie Entscheidung zum Guten als Entfaltung des Heilswillens Gottes in der Geschichte. Das damit gegebene systematische Problem der Erklärung des Bösen (Theodizee) löst Augustinus durch die Unterscheidung zwischen Wille (voluntas) als Grundvermögen des Menschen und L.a. als Vollzug dieses Vermögens im einzelnen Entscheidungsakt. Das Böse hat seinen Ursprung nicht in Mängeln der voluntas an sich (die eine Gabe Gottes ist) und auch nicht in einem bösen Gegenprinzip, sondern in defizienter Betätigung des L.a., der Entscheidung gegen das seinsmäßig Höhere und den göttlichen Schöpferwillen. Das L.a., dessen augustinische Konzeption bis zur Frühscholastik häufig eng als Fähigkeit zu sündigen interpretiert wurde, wurde durch Anselm v. Canterbury neu von seinem Ziel her definiert als »Entscheidung, die die Rechtheit des Willens um dieser Rechtheit selbst willen zu bewahren vermag«, die allerdings immer auch gnadengewirkt ist. Die wesentliche Rolle der Vernunft (die die Rechtheit des Zieles erfasst), führt zu den scholastischen Debatten nach dem Primat von Wille oder Vernunft, sowie nach der metaphysischen Einordnung des L.a. als Potenz (Thomas v. Aquin u. a.) oder Habitus (Bonaventura u. a.). Spätscholastik und Humanismus werfen die Frage nach der Leistungsfähigkeit des L.a. im Hinblick auf das Verhältnis Gott-Mensch auf. Luthers These vom »unfreien Willen« (servum arbitrium) ist nicht philosophisch-anthropologisch, sondern (gnaden-) theologisch gemeint und besagt die Unfähigkeit des menschlichen Willens, aus eigener Kraft das Heil zu wirken; sie ist eine Reaktion auf die Position humanistischer Theologen wie Erasmus v. Rotterdam, der Mensch könne im L.a. aus eigener Kraft Akte reiner Gottesliebe setzen und damit Rechtfertigung erlangen. Neuzeitliche Nachfolgerprobleme des L.a. sind u.a. die Frage nach Willensfreiheit (Wille) oder Determinismus sowie nach der Existenz von Willensakten als eigene Entität.
Literatur:
- Aristoteles: Eth. Nic
- Augustinus: De libero arbitrio
- Anselm v. Canterbury: De libertate arbitrii
- Thomas v. A.: S.th. I, q. 83
- W. Warnach/O. H. Pesch: Freiheit (I-III). In: HWPh Bd. 2, Sp. 1064–1088.
WL
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