Metzler Lexikon Philosophie: Marx’sche Theorie
Es sprechen gute Gründe dafür, auf begrifflicher Ebene zwischen der M.n T. selber und dem Marxismus als ihrer Rezeptionsgeschichte zu unterscheiden. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis ist es höchst problematisch, hinsichtlich der M.n T. ein »philosophisches« Frühwerk (etwa bis 1848 datiert) von einem »ökonomischen« Spätwerk zu unterscheiden. Im Gegensatz dazu soll an dieser Stelle verdeutlicht werden, dass es sich bei der M.n T. im Kern um ein systematisches Ganzes handelt. Wenn bzgl. dieser Theorie von einer »materialistischen Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht« gesprochen wird, so ist damit eine dreifache Perspektive benannt: materialistisch ist diese Geschichtsphilosophie in dezidierter Abgrenzung von ihren idealistischen Vorgängern, gleichwohl bleibt sie Geschichtsphilosophie und beerbt damit genau diese Vorgeschichte in noch näher zu bestimmender Weise, wenngleich sie sich mit ihrem praktischen Impetus kritisch wiederum von diesem Erbe distanziert und den wirklichen geschichtlichen Verhältnissen zuwendet. Alle drei Perspektiven spiegeln sich in Marxens frühem Diktum von der »Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie« (MEW 1, S. 384). – Neben der Beerbung des philosophischen Überlieferungszusammenhanges, hier vor allem des Deutschen Idealismus und des materialistischen Neuansatzes von Feuerbach, ist für die M. T. die Rezeption der zeitgenössischen Nationalökonomie von ausschlaggebender Bedeutung. Aber es bleibt zu bedenken, dass auch die Kritik der politischen Ökonomie, insbesondere Das Kapital, den kritisierten Verhältnissen im Kapitalismus keineswegs in abstrakter Negation gegenübertritt, sondern dass diese Kritik als bestimmte Negation einer durchgeführten philosophischen Dialektik an diese realen Verhältnisse herangetragen wird. – Dass die Philosophie Hegels von Anfang an der bestimmende Kontext der theoretischen Entwürfe von Marx gewesen ist, zeigt bereits seine Dissertation von 1841, in der er sich Rechenschaft ablegt von deren alle philosophischen Neuansätze der 1830er Jahre bestimmenden Monumentalität wie von ihrer hermetischen Gestalt. In seiner sog. radikaldemokratischen Phase wendet er sich der Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie zu. In diesem Stadium erhofft sich Marx eine Besserung der Verhältnisse von einer radikalen Durchsetzung des Demokratieprinzips, also noch durch eine Veränderung auf politischer Ebene. Erst danach dechiffriert er die Sphäre der Ökonomie als den zentralen Ort gesellschaftlicher Determination und findet im Begriff der gesellschaftlichen Arbeit die zentrale Kategorie seines eigenen geschichtsphilosophischen Konzeptes. Dieser Stand der Theoriebildung tritt in den Pariser Manuskripten zutage, in denen er zugleich Hegel dafür lobt, dass er – wenn auch in idealistischer, entfremdeter Gestalt – »das Wesen der Arbeit« erfasst und den Menschen als das »Resultat seiner eignen Arbeit« (MEW E1, S. 574) begriffen habe. Während aber bei Hegel die »Arbeit des Geistes« das dynamische Moment des dialektischen Prozesses bildet, wenn sich dieser, ausgehend von seinem reinen Ansichsein, in Natur und Geschichte hinein entfremdet und aus dieser Entfremdung durch die Konstitution seines Selbstbewusstseins im absoluten Wissen wieder heraustritt, überträgt Marx diese dialektische Dynamik und Struktur auf die reale Geschichte und lokalisiert ihr Movens in der gesellschaftlichen Arbeit, mittels derer sich der Mensch als ihr leibhaftiger Träger im historischen Prozess seiner Gattungsgeschichte sozusagen naturwüchsig in den Zustand der Entfremdung hineinbegeben hat und nun, nach hinreichender Entfaltung der Produktivkräfte im Kapitalismus, der zugleich die Entfremdung der Arbeit radikalisiert und auf die Spitze treibt, von der M.n T. dazu aufgerufen wird, diese Entfremdung in einem bewussten, revolutionär-emanzipatorischen Akt wieder aufzuheben. An dieser Stelle wird zweierlei deutlich: erstens erhellt sie, in welchem Maße eben auch die im Einzelnen aus der Analyse und Kritik der politischen Ökonomie hervorgegangene Marx’sche Revolutionstheorie philosophisch fundamentiert ist und zweitens, wie sehr auch noch Marxens »materialistische Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht« Geschichtsphilosophie ist, will sagen, der Fortschrittseuphorie des bürgerlichen Zeitalters anhängt und die Gattungsgeschichte des Menschen als Weltgeschichte auf aufsteigender Stufenleiter und mit der Zielvorgabe der »klassenlosen« kommunistischen Gesellschaft strukturiert. Gerade in diesem letzten Bezug wäre der Bogen der Argumentation zurückzuspannen zu der Frage nach den in der Theorie selber liegenden Verantwortlichkeiten für das Scheitern der »sozialistischen Alternative«. Bereits in diesem Sinne hatte Adorno das wiederum hermetische Geschichtsverständnis der der Aufhebung der Entfremdung zugrundeliegenden Struktur einer im konkret Positiven endenden Negation der Negation kritisiert und stattdessen auf eine »Negative Dialektik« bestanden, die den Systemzwang über die Subjekte als deren Anwalt immer wieder kritisch zerbricht und so zumindest der Gefahr einer Überforderung der Subjekte nicht erliegt.
Literatur:
- W. Schmied-Kowarzik: Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. Freiburg/München 1981.
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