Metzler Lexikon Philosophie: Moral, offene/eschlossene
in seinem Spätwerk Les deux sources de la morale et de la religion (1932) unterscheidet Bergson eine geschlossene Moral und Gesellschaft von einer offenen. Die geschlossene Moral gründet darin, dass der Mensch von seiner natürlichen Veranlagung her auf Sozialität angelegt ist. Beim kraft seines Intellektes frei handelnden Menschen ordnen und ermöglichen die moralischen Regeln das Zusammenleben, eine Funktion, die etwa bei staatenbildenden Insekten der Instinkt gewährleistet. Dabei gilt als natürliche Notwendigkeit nur das Vorhandensein von Regeln als solchen und ihres Verpflichtungscharakters, während die Inhalte von kulturellen Einflüssen abhängig sind. Der Sinn der Regeln liegt in der Sicherung des Zusammenhalts und damit des Fortbestands der jeweiligen Gemeinschaft. Sie ist daher geschlossen, weil sie sich in der Abgrenzung zu anderen Gemeinschaften konstituiert. Die Leistung rationaler ethischer Prinzipien liegt für Bergson lediglich darin, logischen Zusammenhang in ein Verhalten zu bringen, das bereits den sozialen Forderungen unterworfen ist. Auch ihren obligatorischen Charakter erhalten sittliche Imperative durch Aneignung der bereits wirkenden Verpflichtung als solcher.
Dem gegenüber steht die offene Moral, die sich nicht auf den Raum einer Gesellschaft bezieht, sondern auf die gesamte Menschheit. Beide sind nicht aufeinander zurückführbar. Zwischen der Gesellschaft, in der wir leben, und der ganzen Menschheit besteht ein qualitativer Sprung. Im Fall der geschlossenen Moral stellt die Verpflichtung den Druck dar, den die Elemente der Gesellschaft aufeinander ausüben, um die Form des Ganzen aufrecht zu erhalten. Dieser ist durch die Natur fundiert und hat sich in der Stammesgeschichte entwickelt. Die offene Moral dagegen wird repräsentiert durch das Streben und Vorbild einzelner Persönlichkeiten, deren Wirken andere nachfolgen, und enthält die Idee der Liebe zur ganzen Menschheit. Innerhalb einer Gesellschaft existieren gewöhnlich beide Moralquellen nebeneinander, und, da sie zu durchaus unvereinbaren Inhalten gelangen können, im Konflikt miteinander. Beide sind jedoch für den moralischen Fortschritt erforderlich, weil die offene den engen Rahmen der geschlossenen erweitert und diese den Verpflichtungscharakter als solchen vermittelt. Den Fortschritt innerhalb von Moralvorstellungen erklärt Bergson durch die vorwärtstreibenden Ideen, die in außergewöhnlichen Persönlichkeiten zum Ausdruck kommen, und die die jeweils erstarrten Formen, in denen sich das sozio-kulturelle Leben festlegt und begrenzt, überwinden können.
Literatur:
- H. Bergson: Les deux sources de la morale et de la religion. Paris 1932 (dt. Die beiden Quellen der Moral und der Religion. Frankfurt 1992)
- G. Bretonneau: Création et valeurs éthiques chez Bergson. Paris 1975.
FPB
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