Metzler Lexikon Philosophie: Moral point of view
(Standpunkt der Moral), (1) allgemeine Bezeichnung für denjenigen Standpunkt, von dem aus moralische Fragen unparteilich beurteilt werden können. Ein solcher Standpunkt kann auf verschiedene Weise rekonstruiert werden: (a) Durch die Annahme, dass alle Beteiligten einander als rational entscheidende, gleichberechtigte Vertragspartner (unter Absehung ihres tatsächlichen gesellschaftlichen Status) gegenübertreten, wird gewährleistet, dass die in ihm erzielten Grundvereinbarungen fair sind (Rawls); (b) durch die Annahme einer idealen Rollenübernahme, die verlangt, dass sich das moralisch urteilende Subjekt in die Lage derer versetzt, die von der Ausführung einer problematischen Handlung oder von der Inkraftsetzung einer fraglichen Norm betroffen wären (Mead); (c) durch die Annahme eines praktischen Diskurses, der auf der Grundlage einer argumentativen Willensbildung vollzogen wird. Für eine solche Argumentation gelten die als notwendig unterstellten Kommunikationsvoraussetzungen, dass die Teilnehmer als freie und gleiche anerkannt werden und dass nur der Zwang des besseren Arguments gelten darf. Diese Annahmen bieten die Gewähr für die Richtigkeit jedes (unter diesen Bedingungen) möglichen normativen Einverständnisses. – (2) Eine Position der Ethik, für die folgende Annahmen grundlegend sind: (a) Die Kenntnis der Tatsache, dass eine bestimmte Handlungsweise moralisch richtig oder falsch ist, ist für eine moralische Person handlungsanleitend. Dabei versteht man unter einer moralischen Person jemanden, der bereits entschlossen ist, das zu tun, was moralisch richtig ist, und das zu unterlassen, was moralisch falsch ist. (b) Der Grund für die Bereitschaft zu moralischem Handeln ist die Einsicht, dass ein allgemein anerkanntes System von nur eigennützigen Gründen zu Lebensbedingungen führen würde, die einsam, roh und von kurzer Dauer wären. Daraus resultiert als zweite Einsicht, dass ein System des Begründens allgemein zu akzeptieren ist, innerhalb dessen Gründe des Eigeninteresses vernachlässigt werden, wenn ihre Befolgung dazu führen würde, dass andere Schaden leiden. Moralische Gründe sind inhaltlich durch ihren Bezug auf die zu vermeidenden Lebensumstände der reinen Eigennützigkeit und deren zu vermeidenden Folgen bestimmt. (c) Eine bestimmte Handlungsweise wird danach als recht oder unrecht beurteilt, ob sie das Gewicht moralischer Gründe für oder gegen sich hat.
Literatur:
- K. Baier: Der Standpunkt der Moral. Düsseldorf 1974
- W. K. Frankena: Moral Point of View-Theories. In: Bowie, N. E. (Hg.): Ethical Theory. Atascadero, Cal. 1983, S. 39–79
- J. Habermas: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt 1983. S. 127 ff
- G. H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt 1968. S. 429 ff
- J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt 1975. S. 341.
PP
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