Metzler Lexikon Philosophie: Nachsichtigkeitsprinzip
(principle of charity). In den sprachanalytischen Verstehens- und Interpretationstheorien ist das N. von zentraler Bedeutung. Es handelt sich hierbei um eine analytische Entsprechung zu dem aus der philosophischen Hermeneutik von Gadamer als hermeneutische Maxime des Verstehens bezeichneten »Vorgriff auf Vollkommenheit«. Das von Neil Wilson (Substances without Substraction, 1959) zur Bestimmung der Referenz von Eigennamen eingeführte Prinzip hat Quine in seine Übersetzungstheorie integriert. Es besagt: Jene Übersetzung ist vorzuziehen, die mit der kleinsten Abweichung von unserem Weltbild operiert (Quine: Wort und Gegenstand. Stuttgart 1987. S. 115). Denn es würde gegen die Sinnbedingungen jeder Kommunikation verstoßen, von einem Gesprächspartner zu behaupten, seine Meinungen seien allesamt falsch, da es unter dieser Voraussetzung keinen vernünftigen Grund mehr gäbe, dass wir seine falschen Ansichten noch für Ansichten zu diesem oder jenem Problem hielten. Mit der Maximierung der Meinungsverschiedenheiten minimieren wir die Möglichkeiten dafür, dass ein Gespräch möglich und nötig ist. – Im Anschluss an Quines Theorie der radikalen Übersetzung (radical translation) hat D. Davidson eine Interpretationstheorie entwickelt, die Verstehensprozesse mittels des N.s erklärt. Davidson geht davon aus, dass das N. eine nichthintergehbare Voraussetzung allen Verstehens ist, da nur unter der Voraussetzung dieses Prinzips sich das Verhalten eines Sprechers als Sprache interpretieren lässt. Von Davidson wird dieses Prinzip ohne alle Einschränkungen in Anschlag gebracht. Zum einen, um der zu interpretierenden Sprache eine quantorenlogische Struktur aufzuzwingen, wodurch der Unbestimmtheit der logischen Form kein Raum mehr gelassen wird, zum anderen, um auf diese Weise eine »methodische Maxime« der Interpretation zu gewinnen, die besagt, dass in der gelungenen Kommunikation der Interpret beim Verstehen sprachlicher Äußerungen im Wesentlichen dasselbe meint bzw. glaubt wie der Sprecher. Ohne diese »Einigkeitsunterstellung« bzw. ohne dieses »Einigkeitsgebot«, das als regulative Idee des Sprach- und Bedeutungsverstehens gelesen werden muss, gibt es »grundsätzlich keine Möglichkeit... zu entscheiden zwischen der Auffassung, der andere habe die Wörter ebenso verwendet wie wir, ... und der Auffassung, wir hätten seine Äußerungen falsch verstanden« (Davidson: Sagen, daß. In: Wahrheit und Interpretation. Frankfurt 1990. S. 152). Das N. ist daher eine Bedingung der Möglichkeit des Bedeutungsverstehens überhaupt. Dieses Prinzip ist uns aufgenötigt, da man es »immer schon« als eine normative Bedingung anerkannt haben muss, so Verständigungsprozesse überhaupt einen Sinn haben sollen — man kann auch sagen, dass dieses Prinzip eine quasi transzendentale Nötigung ausdrückt, da es uns keine Wahl lässt, wenn Verstehensprozesse überhaupt in Gang kommen bzw. in Gang gehalten werden sollen. – Das N. drückt also eine Rationalitätsunterstellung aus (genauer: eine Wahrheits- und Konsistenzunterstellung) und ist demnach nicht zu verwechseln mit einer Rationalitätsverpflichtung. Denn diese präsupponierten Voraussetzungen haben nicht den Charakter von Handlungsverpflichtungen. Mit dem N. konstituieren wir als vorgreifende Unterstellung eine Verständigungspraxis, die ohne diese vorgreifende Unterstellung nicht möglich wäre. Denn in jedem tatsächlich durchgeführten Verständigungsvorgang kommen die Teilnehmer nicht umhin, einen solchen Vorgriff faktisch vorzunehmen. Kontrafaktisch sind diese Präsuppositionen also nicht in dem Sinn, dass hier eine ideale Verständigungssituation in einer idealen Verständigungsgemeinschaft antizipiert wird, auf die sich die reale Verständigungspraxis zubewegt, sondern in dem viel schwächeren Sinn, dass in der realen Verständigungssituation ein »Vorgriff auf Vollkommenheit« unterstellt ist, obgleich nie auszuschließen sein wird, dass Verständigungsprozesse hoffnungslos fehlgehen können. Eben darum ist das Principle of Charity nicht bloß eine subjektive Interpretationsmaxime oder eine empirische Annahme, um trotz der »Unterbestimmtheit der Belege« die radikale Interpretation zu garantieren, sondern ein quasi transzendentales Prinzip des Verstehens selbst. Es handelt sich hierbei also um eine unhintergehbare und normativ gehaltvolle Voraussetzung, weil nur unter Voraussetzung dieses Prinzips das Verhalten eines Sprechers in einem bestimmten Kontext für den Interpreten sich als Sprache interpretieren lässt. Sein Zweck ist es, sinnvolle Meinungsverschiedenheiten zu ermöglichen, und das ist ganz und gar abhängig von einer Grundlegung – einer gewissen Grundlegung – in der Einigkeit«, d. h., eine Einigkeit in Form einer weitgehenden »Gleichheit der von Sprechern ›derselben Sprache‹ für wahr gehaltenen Sätze«, die letztlich auch nur eine »Übereinstimmung im großen und ganzen sein« kann (Davidson: Was ist eigentlich ein Begriffsschema. In: Wahrheit und Interpretation. Frankfurt 1990. S. 280).
Literatur:
- G. Abel: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus. Frankfurt 1993. S. 395–426
- K. Glüer: Donald Davidson zur Einführung. Hamburg 1993. S. 63–80
- W. Künne: Prinzipien der wohlwollenden Interpretation. In: Intentionalität und Verstehen. Frankfurt 1990. S. 212–236
- U. Tietz: Rationalität des Verstehens. Zu Davidsons Sprach-Logos. In: K.-O. Apel/M. Kettner (Hg.): Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten. Frankfurt 1995.
UT
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