Metzler Lexikon Philosophie: Naturphilosophie
dient in ihrem allgemeinsten Sinne dem Naturverständnis. Sie lässt sich dabei auf zwei verschiedene Arten definieren: Zum einen als philosophische Beschäftigung mit der Natur selbst, zum anderen als Philosophie der Naturwissenschaften, d.h. als Metawissenschaft oder Wissenschaftstheorie. Zentrale Themen der N. sind u.a. Raum, Zeit, Materie, Bewegung, Kosmos, Ordnungsstrukturen, Determinismus. Die N. durchlief in ihrer Entwicklung mindestens drei unterscheidbare Phasen:
(1) N. als Naturwissenschaft: Von der Antike über das MA. bis in die frühe Neuzeit, mit Einschränkung bis zur Mitte des 18. Jh., kann die N. als Philosophie der Natur nicht von den Naturwissenschaften getrennt werden. Die charakteristischen Fragestellungen der N., besonders in Hinsicht auf das Problem der Kosmogonie, wurden erstmals in der Philosophie der Vorsokratiker gestellt. Die erste wissenschaftliche Systematisierung erfolgte durch Aristoteles, dessen N., zum Teil durch arabische Vermittlung, bis weit ins MA. bestimmend war. Erste Kritik an Aristoteles in Bezug auf naturwissenschaftliche Einzelfragen wurde zur Zeit W. Ockhams (14. Jh.) laut. Die Autonomie der N. gegenüber der Theologie, die während des MA. nicht bestand, wurde erstmals von G. Bruno gefordert. Mit F. Bacons und G. Galileis Entwicklung der induktiv-experimentellen Methode wurde die Wendung zur exakten Naturwissenschaft eingeleitet, die sich in der Folgezeit von der N. trennte, wenn auch Newton und seine Zeitgenossen ihre naturwissenschaftlichen Arbeiten noch als N. bezeichneten.
(2) Metaphysik der Natur und romantische N.: Mit der Entstehung der exakten Naturwissenschaften zu Beginn der Neuzeit und der von ihr betriebenen Kritik an spekulativen Methoden trennten sich die Wege von N. und empirischer Wissenschaft. Kants transzendentalphilosophischer Ansatz brachte die erste N. hervor, die nicht mehr Philosophie der Natur sein wollte, sondern eher Metatheorie der Naturwissenschaften. Seine »Metaphysik der Natur« sollte die apriorischen Anteile jeder empirischen Naturwissenschaft klären. Die spekulative »romantische N.« Schellings im Übergang vom 18. zum 19. Jh. war hingegen wie die N. der Antike und des MA. eindeutig als Philosophie der Natur gedacht, sie war jedoch in keiner Weise identisch mit der Naturwissenschaft, die sich um eine zunehmende Objektivierbarkeit bemühte. Schelling sah die Natur als organisches Ganzes (Subjekt) und zielte gerade auf ein Erkennen der empirischen Methoden unzugänglichen Anteile der Natur ab. Sein erkenntnistheoretischer Idealismus brachte einen absoluten, metaphysischen Naturbegriff hervor. Die romantische N. geriet im Aufwind der exakten Naturwissenschaften in Verruf.
(3) Gegenwärtige synthetische N. und Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften: Ein Neuaufleben der N. im 20. Jh. war v.a. der exakten Grundlegung ihrer Methoden und der konsequenten Einschränkung ihrer Ansprüche zu verdanken. Ausgangspunkt dieses Neuansatzes war der Wiener Kreis des logischen Empirismus (M. Schlick, R. Carnap, O. Neurath, H. Reichenbach, u. a.), der die Überprüfung der semantischen Basis und der syntaktischen Zusammenhänge in naturwissenschaftlichen Theorien zum einzigen Bereich naturphilosophischer Tätigkeit erklärte. Metaphysische Komponenten wurden hierbei als sinnlose Fragestellungen ausgeklammert. Die heutige Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften baut auf diesem analytischen Ansatz auf, aber sie fasst das Spektrum sinnvoller Fragestellungen weiter. Ihr zur Seite steht eine synthetische N., die unter Einbeziehung von Aussagen der Naturwissenschaften die Klärung inhaltlich-philosophischer Fragen über die Natur anstrebt (z.B. Kausalität, Determinismus, Endlichkeit der Welt, Teleologie). Diese neue N. ist gleichzeitig Philosophie der Natur als auch Philosophie der Naturwissenschaften. Ihre Fragestellungen beziehen sich direkt auf die Natur; bei den Antworten benutzt sie und stützt sie sich auf Ergebnisse und Argumente aus den empirischen Wissenschaften. Sie reflektiert die naturwissenschaftliche Theorien- und Modellbildung und gewinnt auf diese Weise (theoriegebundene) Erkenntnisse über die Natur. Als Philosophie (bzw. Wissenschaftstheorie) der Naturwissenschaften untersucht sie die Grundlagen und philosophischen Implikationen der empirischen Wissenschaften und ergänzt diese durch Meta-Betrachtungen, die nicht von den Naturwissenschaften selbst geleistet werden können. Die Einbeziehung von Aussagen der empirischen Wissenschaften in der synthetischen N. überträgt den Vorläufigkeitscharakter der Naturwissenschaften auf die N., die sich somit immer nur auf ein hypothetisches Bild der Natur im Rahmen der bestehenden empirischen Wissenschaften beziehen kann.
Literatur:
- Aristoteles: Metaphysik
- A. Bartels: Grundprobleme der modernen Naturphilosophie. Paderborn 1996
- G. Böhme (Hg.): Klassiker der Naturphilosophie. München 1989
- M. Drieschner: Einführung in die Naturphilosophie. Darmstadt 1981
- P. Duhem: Le système du monde 1–10. Paris 1914–1959
- B. Kanitscheider: Philosophie und moderne Physik. Darmstadt 1979
- Ders.: Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften. Berlin 1981
- G. Sarton: Introduction to the History of Science. Baltimore 1927–47
- M. Stöckler: Was kann man heute unter Naturphilosophie verstehen? In: Philosophia naturalis 26 (1989). S. 1–18.
RH
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