Metzler Lexikon Philosophie: Politische Philosophie
Politisches Denken begleitet das politische Handeln seit dessen Anfängen, p. Ph. jedoch setzt eine entwickelte politische und philosophische Kultur voraus. Aufgabe und Gegenstand der p.n Ph. ist die sozialwissenschaftlich orientierte, anthropologisch begründete und ethisch reflektierte normative Kritik der sozialen und politischen Verhältnisse von Gesellschaften. Als Teildisziplin der Philosophie ist sie in ihrem Verhältnis zu den anderen Disziplinen der praktischen Philosophie zu bestimmen: Ethisch reflektiert und als normative Kritik Ethik voraussetzend, erweitert p. Ph. den Kreis des ethischen Fragens. Von der Sozialphilosophie unterscheidet sie sich durch den engeren Bezug auf das politische System und die Politik von Gesellschaften, von der Rechtsphilosophie durch den umfassenderen Gegenstand und die Nähe zur Ethik gegenüber dem faktischen Bezug auf die positive Rechtswissenschaft. Von den Sozialwissenschaften insgesamt und deren eigenen analytischen Theorien (wie Gesellschaftstheorie, politische Theorie, Rechtstheorie) unterscheidet sie sich durch den ethisch reflektierten, kritisch-normativen Anspruch. Durch die Ansetzung der menschlichen Praxis als Grund aller Verhaltensregeln und -normen unterscheidet sie sich von der sich auf religiöse Offenbarung beziehenden politischen Theologie. Die naturrechtliche Tradition der p.n Ph. ist heute deshalb in die Anthropologie zurückgenommen.
(1) Die Rede von p.r Ph. klingt vertraut. Landläufig ist alles irgendwie politisch, also auch die Philosophie. Dann allerdings wird Philosophie insgesamt als politisch verstanden. P. Ph. meint dann Ideologiekritik der Wissensform Philosophie unter dem Gesichtspunkt ihrer »Widerspiegelung« der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie bezieht sich dann auf die Adäquanz ihrer Widerspiegelung, auf ihr Vermögen, die »versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen (zu) zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt« (K. Marx, MEW 1, S. 381). Eine solche Auslegung p.r Ph. als Programm der Ideologiekritik philosophischer Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse kann Soziologie institutionell formierter Philosophie sein, nicht aber philosophische Wissenschaft. Von p.r Ph. lässt sich sinnvoll nur sprechen als einer Teildisziplin der Philosophie; sie bleibt dabei bezogen auf die sozialen und politischen Verhältnisse sowie deren einzelwissenschaftliche Beschreibung und ist deshalb in sich geschichtlich. – Das Gefüge der praktischen Philosophie bildete sich zwischen Sokrates, Platon und Aristoteles aus. Aristoteles verdanken wir die klassische Einteilung des Systems der theoretischen, praktischen und poietischen Philosophie; er unterschied die praktische Philosophie in Politik, Ethik und Ökonomik. Die Politik bestimmte er dabei als Wissenschaft vom »Guten für den Menschen« (Eth. Nic. 1094b, 1098a). Seinem naturrechtlichen Grundansatz zufolge ist der Mensch als kommunikatives, vernunft- und sprachfähiges Wesen »von Natur aus« auf Gemeinschaft angelegt und angewiesen; die kommunikative und die politische Natur des Menschen gehören zusammen und bestimmen sich wechselseitig. Heißt das Gute für den Menschen formal sein Handeln um der »Glückseligkeit« (Eudaimonie) willen, so ist das politische Gute ein gemeinwohlorientiertes Handeln um der (Glückseligkeit der) Gemeinschaft willen. Höchstes Gut der politischen Gemeinschaft ist die »Autarkie«: die Selbständigkeit der Polis in freier Selbstgesetzgebung nach der Ordnung der (menschlichen) Vernunft. Die politische Selbständigkeit und Freiheit erschien Aristoteles dabei, wie schon Sokrates und Platon, als der faktische wie normative Grund der Möglichkeit individueller Selbständigkeit und Freiheit: Das wahrhaft philosophische Leben setzt nach klassisch-antiker Anschauung wohlgeordnete politische Verhältnisse voraus. Zwar hatte schon Sokrates die mögliche Spannung der philosophischen zur politischen Existenz vorgelebt; wie Platon in der Apologie begriff, hatte er selbst jedoch mit der Anerkennung seiner Verurteilung durch seinen Tod noch seine Einstimmung in die Lebensgesetze der Polis signalisiert. Diese antike Ansetzung eines faktischen wie normativen Vorrangs der politischen Einheit und Gemeinschaft vor dem Individuum und dessen Moralität ist die klassische Herausforderung der p.n Ph. an die Ethik.
Zur antiken Spannung des politischen und philosophischen Lebens trat die religiöse Spannung des Christentums zu den irdischen und somit auch zu den politischen Dingen. Diese entschärfte sich (nach Augustinus) mit der Formierung des christlichen MA. allmählich zu einer keineswegs unproblematischen Unterscheidung der »Zwei Schwerter« von Kirche und Reich. Bei relativer Konstanz der »alteuropäischen« Sozialverfassung blieb der politische Aristotelismus dabei weiterhin tradierbar und blühte mit dem ma. Städtewesen unter christlichem Vorzeichen neu auf (Marsilius von Padua). Erst mit der Entstehung des neuzeitlichen Staates und dessen Übernahme merkantiler Aufgaben, mit der Ausbildung des absolutistischen »Wohlfahrtsstaates« wie der allmählichen Emanzipation der »bürgerlichen Gesellschaft« von diesem monarchisch-paternalistischen Staat änderten sich die Verhältnisse in einer Weise, die die für den politischen Aristotelismus konstitutive Unterscheidung von Haus und Staat, Oikos und Polis aufhob, so dass es zu einem Zusammenbruch des politischen Aristotelismus und einer fundamentalen Umbildung des Systems der praktischen Philosophie und Wissenschaften kam. (2) Der politische Aristotelismus wurde also lange nicht nur als p. Ph., sondern bei seiner Adäquanz und Anschlussfähigkeit an die jeweiligen Sozialverhältnisse lange auch als (korrektur- und ergänzungsbedürftiges) System der praktischen Wissenschaften tradiert. Unter christlichem Vorzeichen jedoch war der klassisch-antike Vorrang der Sozialethik vor der Individualethik stets prekär und fragwürdig. Dabei erwiesen sich die moralischen und religiösen Differenzen zunehmend auch als Politikum. Die konfessionellen Bürgerkriege des ausgehenden MA. und der frühen Neuzeit verlangten nach Schlichtung durch den vom Autoritätsanspruch der konkurrierenden Kirchen und Konfessionen sich emanzipierenden Staat der Neuzeit, der seinen Loyalitätsanspruch auf den bloßen Gehorsam einschränkte und das Gewissen des Einzelnen freiließ. Dieser Staat bedurfte des Entwurfs, der Beschreibung und Rechtfertigung durch eine neue politische Theorie und Philosophie. Die Rechtfertigungsbedürftigkeit politischer Herrschaft wurde dabei zum zentralen Thema der p.n Ph.; sie erörterte es als Legitimitätsproblem und antwortete mit dem vertragstheoretischen Kontraktualismus. Dieser kontraktualistische Neuansatz ist mit seiner Umstellung der Verpflichtungskraft aller Verhaltenserwartungen auf die faktische Selbständigkeit und moralische Selbstverpflichtung des Individuums derart bedeutsam und wirkmächtig geworden, dass man die Geschichte der neuzeitlichen p.n Ph. in ihrer Ganzheit und Einheit als eine Geschichte des Kontraktualismus in dessen diversen Varianten auffassen kann. Klassiker dieses Kontraktualismus sind Hobbes, Locke und Rousseau. Man unterschied Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag, den Zusammenschluss einer Menge einzelner zu einer politischen Einheit und Gemeinschaft von der Institution legitimer Herrschaft in dieser Gemeinschaft. Mit der Formierung des modernen Staats kam es zu einem Aufstieg des positiven Rechts als Instrument der staatlichen Herrschaft, dem ein Aufstieg der Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie im System der praktischen Wissenschaften und Philosophie korrespondierte. Indem Kant den »ursprünglichen Vertrag« in die bloße »Idee« eines Urteilskriteriums der Rechtmäßigkeit staatlicher Herrschaft und Gesetzgebung umdeutete, bahnte er die zentrale Bedeutung der Rechtsphilosophie im deutschen Idealismus an. Hegel erörterte das ganze Pensum der überkommenen praktischen Philosophie bald unter dem Titel der »Rechtsphilosophie«. Wirkungsgeschichtlich geriet der liberale Ansatz beim Individuum als Subjekt aller Verpflichtung dabei im Verlauf des 19. Jh. in Deutschland zunehmend in Verruf, während die angelsächsische Diskussion die Tradition des liberalen Kontraktualismus weiter pflegte. In der Gegenwart kam es durch Rawls zu einer neuen Synthese, die intensive Diskussionen bis in die jüngsten Auseinandersetzungen um »Liberalismus« und »Kommunitarismus« hinein auslöste und noch das gegenwärtige Erscheinungsbild der p.n Ph. prägt.
(3) Durch Kants kritische Philosophie wurde die Aufgabe einer Klärung der moralphilosophischen Voraussetzungen und Implikationen des politischen Denkens erneut eindringlich gestellt. P. Ph. gibt dabei einen besonderen Zugang zur Moralphilosophie, insoweit sie geschichtlich konkrete Formationen sozialen Handelns zum Gegenstand hat. Moralphilosophisch rezipiert, gerät sie jedoch nur zum Prüfstein und Anwendungsdiskurs ethischen Fragens. Liest man die Entwicklung der neuzeitlichen p.n Ph. von Hobbes über Kant bis in die Gegenwart als einen Fortschritt in der moralphilosophischen Bestimmung des Politischen, so engt man deren Fragekreis ein. Traditionell fragt die p. Ph. unter der Idee des gerechten und tugendhaft-guten Lebens auch nach der Qualität der Herrschaft und Verfassung, der politischen Kultur, den Institutionen und der Politik einer Gemeinschaft. Dieses Fragen bedarf der Orientierung durch die sozialwissenschaftliche Forschung. Im rechten Verhältnis faktischer Kenntnisse zu normativen Fragen liegt eine besondere Schwierigkeit p.r Ph. Eine einseitig rechts- oder moralphilosophische Auslegung verliert dabei nicht nur den orientierenden Anwendungsbezug der Frage nach dem guten Leben und den entsprechenden Institutionen aus dem Sinn, sondern verdeckt auch die klassisch-politische Herausforderung, einen Vorrang der Sittlichkeit vor der Moralität anzunehmen. Profiliert man derart die Eigenart p.r Ph. gegenüber der Moralphilosophie (als einer möglichen Fragerichtung), so ist abschließend noch die eigene Grundfrage p.r Ph. zu skizzieren.
(4) Die klassische Antike begriff die Frage nach dem gerechten und tugendhaft-guten Leben in der selbständigen und selbstgesetzgebenden Gemeinschaft als Grundfrage der p.n Ph. Die Neuzeit ging vom Selbstbestimmungsanspruch des bürgerlich selbständigen Individuums (als moralisches Subjekt) aus und begriff die Legitimität gesellschaftlicher Ansprüche und politischer Herrschaft gegenüber dem einzelnen als Grundproblem und Grundfrage der p.n Ph. Fragen der Konstitution von Subjektivität und Moralität führten jedoch zu einer komplexeren Anschauung des Verhältnisses der Individuen zu Gesellschaft und Gemeinschaft. Deshalb wurde der Ansatz beim Vorrang der Sittlichkeit im politischen Existentialismus des 20. Jh. auch als Grundfrage nach dem Wesen und Begriff des Politischen reformuliert. So ging Carl Schmitt mit seinem – die Unterscheidung von Freund und Feind als konstituierendem Kriterium hervorhebenden – Begriff des Politischen von der Existenzbedeutung politischer Selbstbestimmung aus und thematisierte diese im Kontext seiner Verfassungstheorie und -politik vor allem an der politischen Gefährdung des Daseins. Hannah Arendt dagegen betrachtete das politische Handeln politischer Subjekte mehr unter einem Identitätsanspruch des politischen Handelns vor der Mitwelt und hob dabei eine Identitätsbedeutung der politischen Gemeinschaft als Ort kommunikativer Selbsterklärung, Bestätigung und Zuschreibung von Identität im Handeln hervor. Damit legte sie den aristotelischen Grundansatz bei der Zusammengehörigkeit der kommunikativen und politischen Natur des Menschen neu aus. In solchen Ansätzen tritt die Eigenart politischer Ethik vor der Moralphilosophie wieder hervor. Die eigene philosophische Fragestellung und Disziplin der p.n Ph. steht und fällt mit der Annahme solcher Existenz- und Identitätsbedeutungen des Politischen für das Individuum.
Literatur:
- H. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart 1960
- I. Fetscher/H. Münkler (Hg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen. 5 Bde. München 1985/1993
- V. Gerhardt (Hg.): Der Begriff der Politik. Stuttgart 1990
- Ders.: Partizipation. Das Prinzip der Politik. München 2007
- C. Horn: Einführung in die Politische Philosophie. Darmstadt 2003
- W. Kersting: Die Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt 1994
- R. Mehring: Politische Philosophie. Leipzig 2005
- H. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Stuttgart/Weimar 2001 ff.
RM
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