Metzler Lexikon Philosophie: Positivismusstreit
jene Auseinandersetzung, die zwischen Vertretern der Kritischen Theorie auf der einen Seite und des Kritischen Rationalismus auf der anderen Seite geführt wurde. Die Auseinandersetzung entzündete sich an einen Vortrag von Popper auf dem Soziologentag 1961 über »Die Logik der Sozialwissenschaften« und der darauf bezogenen scharfen Entgegnung von Adorno. Die Kernüberlegungen des von Popper vorgetragenen Kritischen Rationalismus lauten: (1) Unter erkenntnistheoretischen Aspekten behauptet er die prinzipielle Fehlbarkeit der Vernunft (Fallibilismus). Die menschliche Vernunft ist irrtumsanfällig und deshalb nicht in der Lage, zu einem absolut gesicherten und ein für allemal gewissen wahren Erkenntnissen zu gelangen, wie dies optimistische Erkenntnislehren nahelegen. Wissenschaftliche Erkenntnis muss versuchen, durch Versuch und Irrtum »Fehlerkorrektur« zu betreiben, um der Wahrheit näher zu kommen, ohne allerdings Gewissheit zu erlangen (Falsifikationsprinzip). (2) In geschichtsphilosophischer Hinsicht werden alle jene Theorien kritisiert, die den Geschichtsverlauf durch determinierende Gesetzmäßigkeiten geformt sehen. Dieser Historizismusvorwurf wendet sich insbesondere gegen die Geschichtsphilosophien hegelianisch-marxistischer Prägung. Damit einhergehend kritisiert der Kritische Rationalismus jene Denkhaltungen, die aus einer vagen Ganzheits- und Totalitätsidee die »Gesellschaft als Ganzes« erfassen wollen und behaupten, dass die bestehende Gesellschaft nur als »Ganzes« (revolutionär) verändert werden könne (Holismusvorwurf). Gegen die »Logik der totalen Revolution« stellt er die Auffassung des »piecemeal social engineering«, wonach die politisch Handelnden in reformischer Absicht permanent gesellschaftliche Institutionen verändern. Politik muss sich auf die Minimierung von Leid beschränken. Wo Politik mit großen Erlösungs- und Heilsversprechen operiert, wird die gesellschaftliche Ordnung totalitär (Totalitarismusvorwurf). (3) In ideologiekritischer Hinsicht lehnt der Kritische Rationalismus jegliche theoretischen und praktischen Absolutheitsansprüche ab und wendet sich gegen manifeste und latente Interpretationsprivilegien. Damit ist gesagt, dass keine gesellschaftliche Elite oder »Denkschule« das Erkenntnismonopol auf »letzte« Wahrheiten und Gewissheiten reklamieren kann. (4) Aufgrund dieser Basisüberlegungen wird der Staat primär als sozialtechnisches Instrument aufgefasst, mit dessen Hilfe Institutionen, Regeln, Gesetze etc. installiert werden, die die Macht und Herrschaftsambitionen von Einzelpersonen und Gruppen kontrollieren und beschränken. Freiheit wird im Wesentlichen negativ bestimmt, d.h. als Freiheit von Zwang und Unterdrückung durch andere.
Diese Grundüberlegungen des Kritischen Rationalismus werden von Adorno scharf kritisiert, wobei er versucht, die Grundfiguren einer dialektischen Erkenntnis-und Gesellschaftstheorie zu entwickeln. (1) Adorno insistiert auf einem Begriff von gesellschaftlicher Totalität, der besagt, dass das kapitalistische Tauschprinzip fundamental für Handlungs-, Erlebnis-, Wahrnehmungs- und Denkweisen ist. Der totale Zusammenhang hat die konkrete Gestalt, dass sich alle dem Tauschgesetz unterwerfen müssen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen, gleichgültig, ob sie subjektiv von einem Profitmotiv geleitet werden oder nicht. (2) Dialektische Theorie will mehr als bloße positivistische Fakten- und Datensammlung; sie will die antagonistische Beschaffenheit der Gesellschaft dechiffrieren, muss den Widerspruch von Rationalität und Irrationalität begreifen und so zur wertenden Kritik an der Gesellschaft schreiten. (3) Nach Adornos Auffassung verordnet der Positivismus »reglementierte Erfahrung«. Die Kritische Theorie begreift die »verwaltete Welt« als ein System von Verdinglichung. Damit ist die Hoffnung ausgedrückt, dass die Menschen sich ihrer Verdinglichung erwehren, Subjekte ihrer Gesellschaft werden und so Individualität entwickeln, wo das Leben dann nichts »Totenhaftes« mehr hätte. (4) Dialektische Theorie hält an einem emphatischen Begriff von Wahrheit fest. In diesem Begriff von Wahrheit ist die richtige Einrichtung einer Gesellschaft mitgedacht, so wenig sie auch als »Zukunft auszupinseln ist«. Adorno wirft dem Kritischen Rationalismus deshalb Positivismus, Szientismus und Anti-Intellektualismus vor, weil er diese Idee einer richtigen Gesellschaft nicht mehr zu artikulieren vermag. Jedoch gibt es ironischerweise noch ein »Wahrheitsmoment des Positivismus«: dass nämlich die Fakten undurchdringliche Gewalt angenommen haben, die dann der szientifische Faktenkult im wissenschaftlichen Gedanken verdoppelt.
Literatur:
- T.W. Adorno (Hg.): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Darmstadt 1969
- H.-J. Dahms: Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus. Frankfurt 1994.
RP
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