Metzler Lexikon Philosophie: Pragmatismus, Neopragmatismus
Der P. wurde von Peirce begründet und stellt die erste eigenständige amerikanische Philosophie dar. Seine zentrale Maxime fordert, Vorstellungen aller Art im Hinblick auf ihre möglichen praktischen Wirkungen zu beurteilen. Peirces P. resultiert aus einer grundsätzlichen Kritik am Fundamentalismus: Unmittelbare Erkenntnisse durch Intuition oder Introspektion sind nicht möglich. Darüber hinaus ist weder die im Rationalismus hervorgehobene Selbstgewissheit des Ich noch sind die vom Empirismus favorisierten Sinneswahrnehmungen in dem gewünschten Maß fundamental. Vielmehr liegen sämtliche Vorstellungen immer schon in zeichenvermittelter und damit eventuell fehlerhafter Form vor. Dem Skeptizismus begegnet der P. Peirce’scher Provenienz durch die Forderung, nur solche Hypothesen als sinnvoll zuzulassen, die an ihren möglichen praktischen Wirkungen experimentell und damit intersubjektiv nachvollziehbar getestet und gegebenenfalls korrigiert werden können. Peirce nimmt an, dass eine prinzipiell indefinite Forschungsgemeinschaft durch fortlaufende Korrektur ihrer Ergebnisse langfristig zu übereinstimmenden und damit zugleich zu wahren Überzeugungen gelangen wird. Es ist ein wesentliches Merkmal pragmatischen Denkens, »Wahrheit« nicht allein als Korrespondenz zwischen Aussage und zugrundeliegendem Sachverhalt zu definieren, sondern als Konsens einer Forschungsgemeinschaft zu bestimmen. Die Bedeutung wissenschaftlicher Hypothesen manifestiert sich in den experimentellen Testmöglichkeiten; analog liegt im Kontext alltäglicher Lebensführung der Bedeutungsgehalt jeder Überzeugung in der Verhaltensgewohnheit, die sie involviert, und die bei gegebener Situation in konkrete Handlungen umsetzbar ist. Auf diese Weise gelingt dem P. eine besondere Vermittlung von Theorie und hieraus resultierender Forschungs- bzw. Lebenspraxis, die im 20. Jh. in unterschiedlichen Akzenten, zum Teil gegen Peirces Intention weiterverfolgt wurde.
Auffälliges Kennzeichen pragmatischer Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jh. ist der Primat der konkreten Handlung. Nicht mehr die Handlungsdisposition und der hierdurch gewährleistete mögliche Bezug zur Handlung, sondern die tatsächlichen einzelnen Realisierungen werden als bedeutungstheoretisches Korrelat unserer Vorstellungen aufgefasst. Beispiele dieses handlungsorientierten P. sind zunächst der Praktikalismus von W. James, der Humanismus von F. C. S. Schiller sowie der Instrumentalismus von Dewey. James, Schiller und Dewey gaben dem P. zusätzlich ein utilitaristisches Image und machten ihn in dieser Interpretation in Amerika und in Europa publik. Der Praxisbezug dient hier nicht mehr einer intersubjektiv überprüfbaren Konsensbildung einer Gemeinschaft, sondern avanciert als individuelle Situations- und Lebenspraxis zum Selbstzweck. Entsprechend ordnet z.B. James auch den Wahrheitsbegriff dem Handlungskontext unter, wenn er wahre Erkenntnisse als nützliches Mittel zur praktischen Bedürfnisbefriedigung versteht. – Zu nennen sind hier ferner der Operationalismus sowie der Behaviorismus, deren jeweilige Grundprinzipien mit dem handlungsorientierten P. übereinstimmen: Bridgmans Operationalismus fordert, wissenschaftliche, insbesondere physikalische Begriffe mit ihrer experimentellen Verifikation zu identifizieren, und die behavioristische Psychologie lehnt introspektive Methoden ab und konzentriert sich auch zum Studium innerer Bewusstseinszustände ausschließlich auf das hieraus resultierende beobachtbare Verhalten. Die hier jeweils vorgenommene Reduktion allgemeiner Vorstellungen auf konkrete singuläre Handlungen fand vor allem in Europa vielfach Ablehnung.
Um die Jahrhundertmitte erhielt der P. vor allem durch Quine neue Impulse, die heute unter dem Terminus Neopragmatismus diskutiert werden. Die Vielfalt dieser neuen Untersuchungsaspekte ist von Stachowiak systematisiert und kommentiert worden. – Quine kombiniert die pragmatische Auffassung des Bedeutungsbegriffs mit dem Holismus/Konventionalismus Duhemscher Prägung: Nach Duhem repräsentieren Theorien Gesamtheiten, deren einzelne Sätze nicht isoliert testbar sind, ferner sind experimentelle Tests stets selbst theoriegeladen. Also erfordert jede Verifikation bzw. Falsifikation Entscheidungen, die nicht nur in der Sachlage begründet sind. In Bezug auf den Bedeutungsbegriff folgt, dass die praktischen Konsequenzen, auf die der P. rekurriert, nicht eindeutig und objektiv interpretierbar sind, so dass der Bedeutungsbegriff nach Quine keine feste Größe darstellt, sondern immer nur die interesse- und konventionsabhängigen Verhaltensweisen einer Gemeinschaft ausdrückt. Durch die Nähe zum Konventionalismus werden zusätzliche Entscheidungshilfen zur Theorienbeurteilung erforderlich; dieser Aufgabe ist z.B. Reschers methodologischer Neopragmatismus gewidmet. Eine Anwendung neopragmatischer Methoden auf normative Systeme leistet der Korporatismus von M. White. Nicht zuletzt stellt die Eigendynamik von Forschungsprogrammen einen aktuellen neopragmatischen Untersuchungsgegenstand dar, der derzeit auf einer grundlegenden kybernetischen Basis und unter Rückbesinnung auf Peirces Zeichentheorie erarbeitet wird. – Gemeinsames Kennzeichen neopragmatischer Ansätze ist eine dynamische Epistemologie, die den Erkenntnisprozess auf der Grundlage des Versuch und Irrtum Modells erklärt.
Literatur:
- J. Dewey: Logic. The Theory of Inquiry. New York 1938
- W. James: Pragmatism, a New Name for Some Old Ways of Thinking. London 1908 (dt. Der Pragmatismus. Hamburg 1977)
- H. Lenk: Pragmatische Philosophie. Hamburg 1975
- E. Martens: Pragmatismus. Ausgewählte Texte von Ch. S. Peirce, W. James, F. C. S. Schiller, J. Dewey. Stuttgart 21992
- Ch. S. Peirce: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus. Frankfurt 21991
- N. Rescher: Methodological Pragmatism. Oxford 1977
- H. Stachowiak: Neopragmatismus als zeitgenössische Ausformung eines philosophischen Paradigmas. In: Ders. (Hg.): Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens. Bd. II. Hamburg 1987. S. 391–435.
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